In Marzahn begann vor 50 Jahren die flächendeckende Munitionssuche
Explosives Erbe
Manchmal liegt Geschichte nur zentimetertief im Boden. Sie gelangt vor allem dann ans Tageslicht, wenn Baugruben ausgehoben werden sollen. Bevor die Bauleute in Marzahn die Großsiedlung hochzogen, mussten andere vor ihnen ab Juni 1974 eine gefährliche, aber notwendige Arbeit verrichten. Ihre Aufgabe war es, die Überreste des 2. Weltkriegs aufzuspüren: Etliche Bomben, Granaten und andere Munition wurden von den Männern des Munitionsbergungsdienstes der Volkspolizei Berlin in Marzahn geborgen, entschärft und unschädlich gemacht.
Berlin, Ausgangs- und Endpunkt des faschistischen Raubkrieges, hatte besonders viele Bombenopfer zu beklagen. Insgesamt luden dokumentarischen Angaben zufolge 29.379 amerikanische und britische Flugzeuge während der Schreckensjahre ihre tödliche Fracht über der Stadt ab. Nach den offiziellen Ladelisten sollen es etwa 45.500 Tonnen gewesen sein. Wie viele der bei den 532 Angriffen abgeworfenen Bomben nicht detonierten, lässt sich nur schätzen. Experten gehen davon aus, dass annähernd 20 Prozent versagten, also in den Boden Berlins oder im Umland einschlugen und dort blieben.
Zerstörung auch am Stadtrand
Da sehr viele Bomberbesatzungen ihre Ziele nicht fanden, warfen sie ihre Last am Stadtrand ab – mit der Ladung zurückfliegen ging nicht, dafür reichte der berechnete Treibstoff nicht.
Im Winter 1943 intensivierten die Alliierten ihre Luftangriffe auf Berlin. Von den Bombenangriffen der britischen Air Force in der Nacht vom 29. zum 30. März 1943 waren sämtliche der ehemaligen Dörfer Marzahn, Biesdorf, Kaulsdorf und Mahlsdorf betroffen. In allen Ortsteilen gab es schwere Schäden. Diese wurden in den Lageberichten des Berliner Polizeipräsidenten akribisch vermerkt. Laut Auszügen aus den Protokollen im Landesarchiv war unter anderem der Ortskern von Marzahn besonders stark betroffen. Gleich mehrere Häuser wurden hier in Schutt und Asche gelegt.
Nerven wie Drahtseile
In Ostberlin entstand Ende 1949 der Munitionsbergungsdienst beim Präsidium der Volkspolizei Berlin, der disziplinarisch direkt dem Innenministerium der DDR und haushaltsrechtlich dem VP-Präsidium Berlin unterstand. Zunächst wurde die Fundmunition im Klärwerk Falkenberg beseitigt. Als das Gelände in die Neuplanungen für den Berliner Nordosten einbezogen wurde, musste der Standort verlegt werden. Ein neuer Sprengplatz wurde in Tempelfelde bei Bernau gefunden. Dort hatten die Munitionsberger um ihren Leiter Heinrich Luthe (siehe Porträt) ihr Domizil. Sie warteten nicht auf Anrufe, die meldeten, dass eine Bombe zu entschärfen sei. Auf die Überbleibsel des 2. Weltkrieges stießen sie auch nicht zufällig. Meter für Meter suchten sie die künftige Großbaustelle Marzahn mit einem Ortungsgerät ab, das auf alle ferromagnetischen Teile reagierte. Dabei wurde buchstäblich jeder Blecheimer im Boden aufgespürt. Sie arbeiteten nach Planziffern, die für sie die Form von Räumungsaufträgen hatten. So schafften sie Vorlauf für die Bauindustrie. In Marzahn „beräumten“ sie, wie der Fachausdruck lautete, über 1.000 Hektar. Routine konnten sich die „Bombenkerle“ nicht leisten. Solides Handwerk, gepaart mit technischen Kenntnissen und Vorstellungsvermögen, bildeten bei ihnen den großen Erfahrungsschatz.
Heinrich Luthe
Sprengmeister
Dieser Mann war so populär, dass ihn Fremde auf der Straße grüßten: Heinrich Luthe, Leiter des Munitionsbergungsdienstes der Volkspolizei Berlin. Bis 1990 entschärfte der mutige Sprengmeister insgesamt 200 großkalibrige Fliegerbomben aus dem 2. Weltkrieg und hängte am 4. Oktober 1990 im Rang eines Oberstleutnants die Uniform für immer an den Haken. Zum einen war der damals über Fünfzigjährige für die Berliner Polizei überqualifiziert und zum anderen hätte er nicht mehr mit der ihm vertrauten, hochentwickelten Such-, Räum- und Sprengtechnik arbeiten können. Aber mit der im Dezember 1991 in Luckenwalde gegründeten Spezialfirma „Heinrich Luthe Munitionsbergung und Umweltentsorgung“ fasste er schnell Fuß in der Marktwirtschaft und beschäftigte zeitweilig über 60 Mitarbeiter. Als Gutachter, Aufspürer und Beräumer von militärischen Altlasten hatte der Firmenchef alle Hände voll zu tun.
Weder die Verdienstmedaille der DDR noch der Orden „Held der Arbeit“ sind Luthe, der wahrlich Verdienste hatte, jemals verliehen worden. Dafür wurde er aber 1984 zum „Ehrenbürger“ von Marzahn ernannt.
Bomben-Bilanz
Das erste Wohngebiet war bereits im März 1975 munitionsfrei. Vor und während des Baus der Großsiedlung Marzahn wurden insgesamt 1.068.240 Munitionskörper gefunden und beseitigt. Darunter waren mehr als 1.644.922 Stück Handwaffenmunition, 54.819 Granaten, 2.067 Brandbomben, 22 Sprengbomben und 112 Minen. Nur ein geringer Teil davon konnte Luftangriffen zugeordnet werden. Der Großteil der Funde entstammte dem Kampf um Berlin im April 1945. Entdeckte Bomben, Minen und Granaten waren meistens Blindgänger, deren Zünder deformiert und deshalb besonders schwierig zu entschärfen waren. Nichttransportable Fundmunition wurde an Ort und Stelle in die Luft gejagt. Die mutigen Männer unter Leitung von Heinrich Luthe verdienen auch heute noch Dank für die Beseitigung dieser Weltkriegs-Altlasten. An dem enormen Bautempo – in zwölf Jahren wurden in Marzahn rund 60.000 Wohnungen errichtet – hatten die Männer vom Munitionsbergungsdienst einen ganz erheblichen Anteil.
Der Bauhistoriker Dr. Oleg Peters schaut in den „Rückspiegel“ und gibt in dieser Serie der „Hellersdorfer“ Einblicke in wenig Bekanntes aus den Anfangsjahren des Bezirks. Er stellt damalige Akteur:innen im Porträt vor und die historischen Hintergründe dar.