Mit einem innovativen Delir-Management gehen Ärzt:innen und Pflegekräfte im Krankenhaus Kaulsdorf gegen das gefährliche Chaos im Kopf von Patient:innen vor.
Heilende Wanddecken in der Notaufnahme
Früher wurde es als „Durchgangssyndrom“ abgetan. Heute weiß man um die Tücken eines Delirs. Nicht rechtzeitig erkannt und behandelt, kann die akute, plötzlich auftretende Verwirrtheit vor, während oder nach einem Krankenhausaufenthalt zu lebensgefährlichen Komplikationen und bleibenden Gehirnschäden führen. Deswegen braucht es ein ausgefeiltes Delir-Management. Das Vivantes Klinikum Kaulsdorf ist da auf einem guten Weg.
Ältere besonders gefährdet
„Ich bin seit einem Jahr hier und extra für das Delir-Management am Standort eingestellt worden“, verrät Thomas Johnson (Foto, l.). Der Pflegeexperte sensibilisiert für das Thema, schult das Pflegepersonal auf dem Gebiet und hat bereits mehrere Projekte initiiert, deren Fokus auf Prävention liegt. Inzwischen gibt es auf fast jeder Station Delir-Beauftragte. Sie sind erste Ansprechpersonen für Personal, Patient:innen und Angehörige, nehmen an vierteljährlichen Qualitätszirkeln teil und leiten ihre Kolleg:innen bei der Anwendung des 4AT-Screenings zur schnellen Ersteinschätzung von Delir an. In der ärztlichen Diagnostik kommt inzwischen auch Künstliche Intelligenz zum Einsatz. Ein KI-gestütztes Risikowarnsystem erkennt komplexe Zusammenhänge in den Patient:innendaten und sagt das individuelle Gefährdungspotenzial voraus. „Grundsätzlich lässt sich sagen: Je höher die kognitive Vorbeeinträchtigung, desto größer ist das Risiko, ein Delir zu entwickeln“, erläutert Thomas Johnson. Ältere sind besonders gefährdet.
Orientierung geben
Die Liste an Faktoren, die zu akuter Verwirrtheit führen können, ist lang – und das Krankheitsbild komplex. Ausnahmesituationen und Umgebungswechsel wie ein Krankenhausaufenthalt, eine Operation oder ein Umzug ins Pflegeheim können ein Delir innerhalb von Stunden oder Tagen auslösen. Betroffene sind entweder durcheinander, teilweise aggressiv und manchmal halluzinierend oder aber sehr ruhig, in sich gekehrt und kaum ansprechbar. Bei der Behandlung und Prävention setzt das Pflegepersonal in Kaulsdorf unter anderem auf einen ausgeglichenen Tag-Nacht-Rhythmus und aktivierende Beschäftigungen, die die Kognition anregen. „Das fängt bei Mandalas malen an“, erklärt Thomas Johnson. Für besonders unruhige Patient:innen, die zum Beispiel an ihren Zugängen ziehen, wurde die „Kaulsdorfer Nesteldecke“ entwickelt – ein liebevoll gestalteter „Flickenteppich“ aus unterschiedlichen Materialien und Stoffen zum Fühlen, Greifen und Beschäftigen.
Zudem achten die Pflegekräfte nach Operationen oder beim Eintreffen in der Rettungsstelle darauf, den orientierungslosen Zustand so gering wie möglich zu halten. „Wenn Patient:innen zu uns in die Rettungsstelle kommen, sind Brille und Hörgeräte oft in irgendeiner Tüte verkramt. Wir kümmern uns darum, dass sie beides schnell wieder anlegen können. Das gibt Sicherheit“, berichtet die Stationspflegeleiterin der Notaufnahme Georgia Schönknecht (Foto, M.). Zudem werden FSJler:innen und Azubis als speziell ausgebildete „Delir-Buddies“ in die Betreuung von deliranten Personen oder Risikopatient:innen einbezogen – gerade wenn Vertrauenspersonen wie Angehörige oder Bezugspflegekräfte fehlen.
Kunst in der Rettungsstelle
Ein absolutes Leuchtturmprojekt ist die delirsensible Gestaltung der Rettungsstelle. Hierfür arbeitet das Krankenhaus mit Elena Kaludova und Marc Pospiech von der Neuen Kunstinitiative Marzahn-Hellersdorf (NKI) zusammen. Die beiden Künstler:innen verwandeln weiße Deckenplatten im Flur der Notaufnahme in vier große abstrakte Landschaftsgemälde. Die erste Arbeit, ein Mohnblumenfeld, hängt bereits. Die Kunstwerke sollen Liegend-Patient:innen während ihrer Wartezeit in der Rettungsstelle visuelle Reize bieten und ihnen helfen, Stress abzubauen. „Ein Aufenthalt in der Rettungsstelle stellt immer eine Ausnahmesituation dar“, weiß Georgia Schönknecht. „Man ist aus der gewohnten Umgebung herausgerissen und starrt an die weiße Decke. Fremde Menschen wuseln umher. Es ist laut. Dies alles kann dazu führen, dass sich Patient:innen rapide kognitiv verändern“, sagt sie.
Chefarzt Dr. Philipp Groha (Foto, r.) bestätigt das. Er nimmt bei über 15 Prozent der älteren Besucher:innen der Rettungsstelle ein Delir an. Deswegen seien Prävention und Früherkennung bereits in der Notaufnahme so wichtig. Neben zum Teil traumatischen Erlebnissen für Betroffene und der Gefahr, kognitive Beeinträchtigungen zu behalten, bindet ein Delir auch enorm viel Personal, verursacht hohe Folgekosten und einen höheren Betreuungsaufwand für Angehörige oder den Pflegedienst.
Seit das erste Deckengemälde fertig ist, haben die Mitarbeiter:innen der Rettungsstelle schon einige positiven Beobachtungen machen können. „Neulich kam eine demente Frau leider ohne Begleitung zu uns. Sie schrie ganz laut. Wir haben ihr das Bild gezeigt und sie darunter gefahren. Es hat nicht lange gedauert, da war sie ruhig und damit beschäftigt, sich alles genau anzuschauen.“
Delir im Fokus
Das Konzept hinter dem Projekt nennt sich „Healing Art“, also heilende Kunst. Immer mehr Krankenhäuser setzen inzwischen darauf. „Wir werden das Ganze natürlich evaluieren“, kündigt Pflegeexperte Thomas Johnson an. „Sollten etwa bestimmte Motive nicht so gut funktionieren, besteht die Möglichkeit, die Platten auszutauschen.“
Rettungsstellen-Chef Dr. Philipp Groha sagt: „Es ist gut und wichtig, dass Delir bei uns, aber auch im gesamten Vivantes-Konzern zu einem großen Thema geworden ist.“ Aktuell bereite das Medical Board Notaufnahme, ein Zusammenschluss aller Vivantes-Chefärzt:innen und Stationspflegeleitungen dieser Fachrichtung, ein speziell auf multimorbide Patient:innen ausgerichtetes Konzept aus. „Auch da legen wir einen großen Fokus auf das Thema Delir.“