„Geburtsjahr“ 1979
Berliner Junior Marzahn ist jetzt 45
Vor 45 Jahren wurde im Zuge des Großsiedlungsbaus der Stadtbezirk Marzahn gegründet. Dessen Name und Grenzen änderten sich seitdem mehrfach.
Die Gründungsurkunde ist auf den 5. Januar 1979 datiert. An diesem Tag bestätigte die Ost-Berliner Stadtverordnetenversammlung einen Magistratsbeschluss zur Bildung des eigenständigen neunten Stadtbezirks Marzahn aus Teilen Lichtenbergs und Weißensees. Später wurden mit Hohenschönhausen (1985 aus Teilen Weißensees) und Hellersdorf (1986 aus Teilen Marzahns), zwei weitere Stadtbezirke gebildet, weil auch dort Großsiedlungen neu entstanden. So gab es, obwohl das Groß-Berlin-Gesetz von 1920 nur 20 vorgesehen hatte, nach der Wiedervereinigung insgesamt 23 Bezirke. Das änderte sich nach den Fusionen im Jahr 2001. Das wiedervereinte Marzahn-Hellersdorf ist seither verwaltungsintern die Nummer zehn und der jüngste Berliner Bezirk.
Die Standortwahl
Der heutige Bezirk wuchs nicht erst im Jahre 1979 wie Phönix aus der Asche. Zum Zeitpunkt der Gründung lebten in den Dörfern Biesdorf, Marzahn, Hellersdorf, Kaulsdorf und Mahlsdorf sowie in den umliegenden Siedlungsgebieten ca. 50.000 Menschen. Alle fünf Ortsteile wurden 1920 nach Berlin eingemeindet. Dörfliches Leben – das war für Jahrhunderte hier der Alltag. Doch mit der Ruhe und Beschaulichkeit war es ab Anfang der 1970er Jahre in Marzahn vorbei. Im nordöstlichen Lichtenberg entstand ein Industriegebiet mit über 50.000 Arbeitsplätzen. Außerdem wurde die Lösung des Wohnungsproblems bis 1990 als Ziel ausgegeben. Allein in Berlin sollten deshalb mehr als 200.000 neue Wohnungen entstehen. Emsig suchten Städte-, Landschafts- und Verkehrsplaner, Soziologen, Architekten, Ingenieure, bildende Künstler und Fachleute der verschiedensten Disziplinen die günstigste Variante. Wichtigster Pfeiler des ambitionierten Planes in der DDR-Hauptstadt wurde der Neubau der Großsiedlung Marzahn.
Die Wiege des neunten Berliner Stadtbezirkes stand aber nicht im Ortsteil Marzahn, sondern in Biesdorf-Nord, genauer im Bereich Märkische Spitze. Hier, südlich der heutigen Allee der Kosmonauten, fraßen sich seit dem Frühjahr 1977 Bagger in die Erde. Die erste der insgesamt 1.293 Baugruben wurde im April 1977 ausgehoben. Bereits Ende desselben Jahres meldeten Zeitungen die Fertigstellung der ersten Plattenbauwohnungen. Die neuen Bewohner gehörten „verwaltungsmäßig“ zunächst noch zum Stadtbezirk Lichtenberg.
Bezirk der Superlative
Zu DDR-Zeiten war Marzahn ein Ostberliner Stadtteil der Superlative. Hinsichtlich seiner Größe, Komplexität, Ausstattung und Realisierung ist er heute das größte Wohngebiet der Bundesrepublik in industrieller Bauweise. Das Tempo auf der riesigen Baustelle war von Anfang an rasant. Alle 90 Minuten wurde eine Wohnung fertig – mit Zentralheizung und Bad. Allein zwischen dem 18. Dezember 1977 und Ende Januar 1979 bezogen 15.000 „Neu-Marzahner“ ihre Wohnungen im ersten Wohngebiet. 2019 verwies Berlins damaliger Regierender Bürgermeister Michael Müller in seinem Grußwort zum 40. Bezirksgeburtstag darauf, wie atemberaubend schnell in den Anfangsjahren die Großsiedlung entstand und wünschte sich eine derartige Geschwindigkeit heute für die Hauptstadt. Dafür erntete er Riesenapplaus.
Für die ersten drei Wohngebiete und die vier 1980 hinzugekommenen wurden unter der Leitung von Chefarchitekt Heinz Graffunder (siehe Porträt) unterschiedliche städtebauliche und gestalterische Lösungen mit neun Grundtypen bei Wohnbauten ausgearbeitet. Für die 279 gesellschaftlichen Bauten (Schulen, Kitas, Einkaufs- und Dienstleistungseinrichtungen, Polikliniken und Kulturstätten) in Marzahn waren zwölf Grundtypen konzipiert worden. Beispiellos ist auch der Bau von 18,7 Kilometer Sammelkanälen aus Betonfertigteilen für die stadttechnische Versorgung. Von 1977 bis 1989/90 wurden insgesamt 59.646 neue Wohnungen geschaffen. In einem Dreischichtbetrieb, zumeist in durchgehender Arbeitswoche, wurden die Gebäude typisiert, in den Betonwerken vorgefertigt und auf der Baustelle zusammengesetzt.
Prof. Heinz Graffunder
Architekt und Stadtplaner
Heinz Graffunder war der Planer des Berliner Nordostens, insbesondere des Stadtbezirkes Marzahn. Mit bedeutenden Bauten wie etwa der DDR-Botschaft in Budapest, dem Palast der Republik und den Rathauspassagen in Berlin prägte er die ostdeutsche Architektur auch in ihrer internationalen Wahrnehmung.
Am 23. Dezember 1926 als Sohn eines Schlossers in Berlin geboren, wurde Graffunder als junger Mann mit dem Notabitur in den Krieg geschickt. Ins zerstörte Berlin zurückgekehrt, lernte er Maurer und studierte danach an der „Vereinigten Ingenieurschule Berlin Neukölln“ (1948/52). Sein erstes eigenes Projekt als Architekt war ein Wohnhaus in Berlin-Steglitz (1952). Seit den 1960er Jahren beschäftigte sich Graffunder mit der industriellen Bauweise. Mit Joachim Näther als Chefarchitekt und ihm als Generalplaner wurde das Stadtviertel um den Fennpfuhl in Lichtenberg hochgezogen. Das war die Generalprobe für die Stadterweiterung in Marzahn, Hellersdorf, Hohenschönhausen.
1976 wurde Heinz Graffunder, inzwischen Professor und zweifacher Nationalpreisträger, zum Chefarchitekten für den Aufbau der Großsiedlung Marzahn berufen. Nach dem Ende der DDR arbeitete er als freischaffender Architekt an verschiedenen Bauaufgaben wie Wohnhäusern, Hotels, Gaststätten und Geschäftshäusern in der Hauptstadt. Er starb am 9. Dezember 1994 in Berlin. Marzahn-Hellersdorf würdigte posthum seine Leistungen und gab 2004 den Parkanlagen im Quartier Südspitze den Namen „Heinz-Graffunder-Park“.
Reichhaltiger Erfahrungsschatz
Der Bezirk kann auf sehr bewegte, ereignisreiche 45 Jahre zurückblicken und verfügt, was etwa Wachstum und Schrumpfung betrifft, über einen reichhaltigen Erfahrungsschatz. Die eigenständigen Bezirke Marzahn und Hellersdorf wuchsen in der Gründungs- und Aufbauphase schnell auf insgesamt über 300.000 Einwohner. Nach der Wende aber sank die Zahl auf 230.000. Der Wohnungsleerstand nahm dramatisch zu. Der Niedergang drohte. Ganze Gebäude und viel Infrastruktur verfielen angesichts mangelnder Investitionen und Pflege. Insgesamt wurden über 4.300 Wohnungen und soziale Einrichtungen, darunter 37 Schulen und dutzende Kitas, abgerissen. Nach dem Ende dieser verfehlten Maßnahmen stellte sich der Bezirk neu und am aktuellen Bedarf orientiert auf. Viele Gebäude wurden modernisiert oder verkleinert. Es entstanden neue Freiflächen.
Gegenwärtig rollt wieder eine Bauwelle durch den Bezirk. Überall drehen sich die Kräne. Auch wenn sich die Flächenreserven zunehmend erschöpfen, muss bei Erhaltung von genügend Freiraum und Grün weiterhin geförderter und nicht geförderter Wohnraum parallel geschaffen werden. Das gilt auch für die dringend benötigten Kitas, Schulen, Arztpraxen und Verkehrswege. Eine (Ver-)Weigerung ist fehl am Platz.
Heimat- und Zukunftsort
Natürlich spielen die Baugeschichte vor und nach 1990 und die ihnen zugrunde liegenden politischen Entscheidungen eine tragende Rolle. Aber die Kommune am nordöstlichen Berliner Stadtrand lebt von ihren fast 290.000 Bewohnern. Sie erleben ihren 62 Quadratkilometer großen Bezirk heute fast täglich neu. Denn Marzahn-Hellersdorf ist ständig im Wandel, steht nie still, ist geprägt von viel Grün, einer größtenteils guten Infrastruktur und Heimat der bunten, rekonstruierten und gar nicht grauen Platte, in der man eine Familie gründen und auch alt werden kann.
Der Bauhistoriker Dr. Oleg Peters schaut in den „Rückspiegel“ und gibt in dieser Serie regelmäßig Einblicke in wenig Bekanntes auch aus den Anfangsjahren des Bezirks. Er porträtiert damalige Akteur:innen und stellt historische Hintergründe dar.