Ringelnatz-Siedlung damals und heute
Bruno Taut über die Schulter geschaut
Vor 30 Jahren wurde in Biesdorf-Nord der Grundstein für das erste Nachwende-Wohnungsbauvorhaben gelegt. Die Ringelnatz-Siedlung mit Tonnendächern als Markenzeichen knüpft an die Traditionen des Siedlungsbaus der 1920er Jahre an. Am Standort wurden bis heute 668 Wohnungen für etwa 124 Mio. Euro errichtet.
So eigenwillig wie der Dichter Joachim Ringelnatz selbst war, präsentiert sich auch die nach ihm benannte Siedlung in Biesdorf. Eingebettet in den ,,Zipfel“ zwischen Hans-Fallada- und Joachim-Ringelnatz-Straße, grenzt das Quartier im Osten an die Kleingartenanlage „Am Kienberg“ und im Westen an das Einfamilienhausgebiet. Im Süden schließen sich die Cecilienstraße und die Plattenbausiedlung an. Städtebaulich herausfordernd war das Vorhaben in zweierlei Hinsicht: Zum einen galt es, den Bezug sowohl zum Landschaftsraum als auch zur Kleinsiedlung aufzunehmen und die Geschosshöhe entsprechend zu planen. Zum anderen ging es auch darum, eine Art „Torsituation“ zu den benachbarten Elfgeschossern zu schaffen. Das Bauprojekt sollte die Zukunft neuer Siedlungsgebiete in Berlin einleiten.
Taut als Pate
Die Ringelnatz-Siedlung hebt sich architektonisch deutlich von den anderen Bauten der Großsiedlung im Bezirk ab. Sie ist eine Reminiszenz an den Architekten Bruno Taut (1880-1938). Die Gebäude, für die die Wohnungsbaugesellschaft Marzahn mbH (heute degewo) am 23. August 1993 den Grundstein legte, erinnern an den Stil des Baumeisters der klassischen Moderne: Das Quartier mit seinen Zwei- und Dreigeschossern und den offenen Wohnhöfen hat Gartenstadt-Charakter. Eine geschwungene Mittelachse durchzieht das trapezförmige Areal.
Markenzeichen Tonne
Volker Heise (siehe Porträt) und Frank Dörken schrieben mit der verdichteten, niedriggeschossigen Bauweise nicht nur bewährte Bautraditionen fort, sondern entwarfen für die Siedlung Häuser mit ungewöhnlich anmutenden Tonnendächern aus Titan-Zinkblech. Sie wurden das Markenzeichen des Viertels und Identifikationssymbol für die Bewohner.
Am 29. September 1994 war Richtfest und im September 1995 fanden nach monatelangen Verzögerungen die ersten Schlüsselübergaben statt. In den Bau der 369 Eineinhalb- bis Fünf-Zimmer-Wohnungen investierte das Land Berlin rund 150 Millionen D-Mark.
Wasser und Grün
Weitere rund zehn Millionen DM flossen in die Außenanlagen. Die Landschaftsarchitekten um Heinz Kluht und Fritz Protzmann entwickelten ein Gebiet aus Wohnhöfen, Spielplätzen und einem verzweigten Wegenetz. Sie thematisierten das Element Wasser auf vielfältige Weise – von der Regenwasserversickerung, Zisternen und Regenfässern in den zahlreichen Mietergärten bis hin zum zentralen Brunnen samt 200 Meter langem künstlichen Wasserlauf. Am nördlichen Ende der Siedlung wurde ein kombinierter Bewegungsspielplatz mit Bolzplatz eingerichtet.
Durch offene Becken und Gräben wird Regenwasser in einen naturnahen Teich des Wuhletals geführt. Ein kleiner Wasserlauf begleitet Spaziergänger auf dem Weg von Nord nach Süd und fließt dabei über eine Inschrift von Joachim Ringelnatz: „Ein Rauch verweht. Ein Wasser verrinnt. Eine Zeit vergeht. Eine neue beginnt“ ist dort zu lesen. Über alldem turnt kopfstehend im Ringelnatz‘schen Sinne ein Artist auf einer 12 Meter hohen Stange. Die Arbeit des Berliner Bildhauers Karl Biedermann gewann den eigens für die neue Wohnanlage ausgeschriebenen Kunstwettbewerb.
Dr. Volker Heise
Architekt und Stadtplaner
Der gelernte Bauzeichner Volker Heise studierte in Aachen Architektur und arbeitete von 1964 bis 1967 als angestellter Architekt. Anschließend absolvierte er bis 1971 ein Architektur- und Stadtplanerstudium an der Technischen Hochschule Berlin und war dort wissenschaftlicher Mitarbeiter – zunächst bis 1976 am Institut für Wohnungsbau und Stadtteilplanung (IWOS), später (1978-1982) im Forschungsprojekt „Internationaler Vergleich Stadterneuerung“.
Mit der 1983 erschienenen Publikation „Schluss mit der Zerstörung? Stadterneuerung und städtische Opposition in Amsterdam, London und West-Berlin“ leistete Volker Heise zusammen mit Harald Bodenschatz und Jochen Korfmacher einen Beitrag zur Internationalen Bauausstellung (IBA) Berlin 1987.
In den 1990er Jahren hatte Heise gemeinsam mir Frank Dörken ein Architekturbüro in Kreuzberg. Damit nahmen sie erfolgreich an zahlreichen Wettbewerben teil. Auf die Ringelnatz-Siedlung in Marzahn folgte die Beteiligung am Berliner Siedlungsprojekt in Altglienicke. Im Auftrag der Wohnungsbaugesellschaft STADT UND LAND realisierten sie vier- und fünfgeschossige Gebäude. Das Quartier knüpfte an die Tradition der Gartenstadt an.
In seinen letzten Lebensjahren engagierte sich Heise in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) Charlottenburg-Wilmersdorf für Bündnis 90/Die Grünen als Stadtentwicklungsexperte.
Süderweiterung lange geplant
Bereits im Sommer 1995 führte die Wohnungsbaugesellschaft Marzahn einen weiteren Architektenwettbewerb zur baulichen Ergänzung der vorhandenen Siedlung im Süden durch. Ausgewählt wurde der Beitrag von Volker Theissen (1934-2000). Er entwarf ein Gebäudeensemble aus Punkthäusern und Gebäudezeilen mit 125 Wohnungen. Theissen nahm damals den schon vorhandenen Grünzug in der Siedlung auf und ließ ihn in einem kleinen Stadtplatz enden. Mit drei Einzelhäusern wollte er die Bebauung auflockern und einen Übergang zum angrenzenden Wuhle-Landschaftsraum schaffen. Geplant war auch eine Kindertagesstätte. Zunächst aber blieb das Areal unbebaut und in „Reserve“.
Städtebauliche Kehrtwende
Erst zwei Jahrzehnte später wurden Wohnungen in der wachsenden Stadt Berlin wieder gebraucht. Der Bebauungsplan XXI-20 am Standort Cecilienstraße hatte ein Potenzial von insgesamt ca. 300 Wohnungen festgelegt. Aus einem von der degewo durchgeführten Wettbewerbsverfahren gingen im September 2015 Kny & Weber Architekten mit ihrer städtebaulichen Konzeptstudie für die Fläche als Sieger hervor. Auf deren Grundlage entstand nach Plänen von DAHM Architekten + Ingenieure GmbH dann ab 2016 für 44 Millionen Euro eine vier- bis sechsgeschossige Riegelbebauung mit 299 Wohnungen zwischen 34 und 97 Quadratmetern.
Die sieben Mietshäuser orientieren sich in Kubatur und Optik eher an den gegenüberliegenden DDR-Bauten. Während im alten Teil der Ringelnatz-Siedlung auf jede Wohnung noch durchschnittlich 203 Quadratmeter Grundstück entfallen, sind es im neu entstandenen Teil nur noch 60 Quadratmeter. Auch wenn damit von dem nach der Wende eingeschlagenen städtebaulichen Weg abgerückt wurde, war die Erweiterung des Viertels ein Signal: Degewo und der Berliner Senat zeigten, dass es ihnen ernst mit der Neubauoffensive ist. Ob die viel gepriesene, weil ausgewogene „Berliner Mischung“ der Bewohnerschaft erreicht werden kann, bleibt abzuwarten.
Der Bauhistoriker Dr. Oleg Peters schaut in den „Rückspiegel“ und gibt in dieser Serie regelmäßig Einblicke in wenig Bekanntes auch aus den Anfangsjahren des Bezirks. Er stellt damalige Akteur:innen im Porträt vor und die historischen Hintergründe dar.