Modellprojekt im Bezirk:
Bevor das Jugendamt eingreift, tagt der Familienrat
Wenn Familien an ihre Grenzen kommen, springt das Jugendamt zur Seite. In Marzahn-Hellersdorf wird dort seit nicht ganz einem Jahr mit einer neuen partizipativen Methode gearbeitet: Familien in schwierigen Lebenssituationen sollen dabei unterstützt werden, ihre Probleme aus eigener Kraft zu lösen. Dazu wird ein Familienrat einberufen.
Welche Menschen zu diesen Zusammenkünften an einen Tisch kommen, entscheidet die belastete Familie selbst. „Das können Verwandte, Bekannte, Freunde, Nachbar:innen, Kita- und Horterzieher:innen oder auch völlig andere Vertrauenspersonen aus dem nahen Umfeld sein – der Bäcker nebenan zum Beispiel“, sagt Jugendstadtrat Gordon Lemm (SPD). Gemeinsam werden Herausforderungen benannt und Bewältigungsstrategien durch die Familien selbst entwickelt. Eine Besonderheit des Ansatzes sei, dass sich die Hilfeplanung an den vorhandenen Ressourcen und der Lebenswelt der Familien orientiere, statt ausschließlich den Fokus auf das zu richten, was nicht so gut funktioniere, so Lemm.
In Hamburg gibt es Familienräte schon seit vielen Jahren – Grund genug für das Marzahn-Hellersdorfer Jugendamt, den Kolleg:innen im Bezirk Altona für einen Fach- und Erfahrungsaustausch kürzlich einen Besuch abzustatten. Insbesondere bei hochstrittigen Familienkonstellationen rund um Trennung und Umgang soll das Instrument sehr wirksam sein, wurde dort unter anderem berichtet.
Im September 2022 ist das Modellprojekt in Marzahn-Hellersdorf gestartet. Während die Familiengruppenkonferenz bei ambulanten Erziehungshilfen (z. B. Familientherapien, Erziehungsbeistand, sozialpädagogische Einzelbetreuung) eine „Kann“-Entscheidung ist, lautet die Arbeitsanweisung bei stationären Hilfen: Bevor das Jugendamt Maßnahmen ergreift, muss zwingend der Rat tagen. Damit sollen Unterbringungen von Kindern außerhalb der eigenen Familie vermieden oder aber vorzeitig beendet werden. Auch in Kinderschutzfällen wird das Instrument angewendet – aber nicht ohne, dass konkrete Mindestanforderungen zur Sicherung des Kindeswohls definiert werden.
„Tatsächlich registrieren wir inzwischen einen rückläufigen Trend der stationären Unterbringungen“, äußert sich Gordon Lemm zu den Erfolgsaussichten der Methode. Noch aber sei es für eine abschließende Beurteilung zu früh. So könnte es passieren, dass im Familienrat aufgebaute Hilfsstrukturen nach einer gewissen Zeit wieder wegbrechen und sich das Jugendamt doch noch verspätet einschalten müsse.
Die Hoffnung aber ist eine andere: Mit dem Verfahren sollen möglichst vielen Familien befähigt werden, sich aus Krisensituationen selbst herauszuhelfen. Sie erleben Selbstwirksamkeit und bauen vielleicht auch Hemmschwellen gegenüber dem Jugendamt ab.
Gleichzeitig verspricht sich der Bezirk davon einen Hebel, Kosten in der Jugendhilfe einzusparen, denn Jahr für Jahr stellt die Zunahme der Hilfen zur Erziehung (zuletzt 100 Millionen Euro) ein enormes Haushaltsrisiko für die Bezirkskasse dar. Das hat auch damit zu tun, dass das Land Berlin nie die komplette Summe zuweist beziehungsweise im Rahmen der sogenannten Basiskorrektur erstattet. Für dieses Jahr ist ein Defizit von sechs Millionen Euro noch nicht aufgelöst. Dass es auch anders gehen kann, beweist Hamburg. Die Hansestadt übernimmt die kompletten Kosten der Jugendämter für Hilfen zur Erziehung. Schlichtweg weil die Unterstützungsmaßnahmen eine gesetzliche Aufgabe sind, für die Geld da sein muss.