Hoch hinaus in Marzahn

Stadtentwicklung vertikal

Hoch hinaus in Marzahn

© Ole Bader
© Ole Bader

Marzahn ist nicht nur die Hauptstadt von Balkonien, sondern auch der Berliner Stadtteil mit der größten Wohnhochhausdichte. Grund genug, sich einmal anzuschauen, seit wann sich die Wohnriesen aus Beton wo und wie präsentieren.

Lange Zeit spielten Hochhäuser als urbane Wohnform in Berlin keine Rolle. Mit dem stetigen Bevölkerungswachstum, der Flächenknappheit und dem Trend zu alternativen Wohnformen rückten sie aber immer stärker in den Fokus der Stadtentwicklung. Von den etwa 370.000 Bauten in Berlin sind ungefähr 1.300 (0,35 %) mehr als 35 Meter hoch. Nur um die 120 Gebäude übertreffen die 60-Meter-Marke. Der Großteil davon entstand in Ost und West zwischen Mauerbau und Mauerfall vornehmlich in Stadtrandlagen wie der „Hochburg“ Marzahn. Für eine grobe Einteilung wird häufig auch eine einfache Unterscheidung benutzt: „echte“ Hochhäuser haben mindestens 15 Geschosse und Wohnhäuser mit Geschossen zwischen 9 und 14 werden als „Semi-Hochhäuser“ bezeichnet. 

 

Historische Fotos vom Helene-Weigel-Platz © Bezirksmuseum/Archiv Breitenborn


Ein Dorf hochkant

In Marzahn wurden zu DDR-Zeiten 58.625 Wohnungen gebaut, davon befanden sich 10,3 Prozent in den „echten“ Hochhäusern und 54,9 Prozent in Semi-Hochhäusern. Während bei erstgenannten die durchschnittliche Bauzeit zwischen 194 und 326 Tagen betrug, waren letztere bereits nach 87 bis 109 Arbeitstagen fertigstellt. Auch die Baukosten je Wohnung unterschieden sich erheblich. Bei den Hochhäusern lagen sie zwischen 50.000 und 78.000, bei der Semi-Variante dagegen nur zwischen 27.000 und 44.000 Mark der DDR. Wohnhochhäuser waren also schon damals teurer, ihre Planung dauerte länger, die Baustellen waren aufwendiger, in Brandschutz, Aufzüge etc. musste mehr investiert werden. Sie fielen daher bei „Einsparungswellen“ dem Rotstift der Planer als erste zum Opfer. 

 

Ein besonderes Exemplar der weit verbreiten Wohnhochhäuser in Großtafelbauweise mit 18 bis 21 Geschossen steht in Fächerform an der Marzahner Promenade.

Die drei höchsten Wohnbauten (76,35 m) befinden sich am Helene-Weigel-Platz. Diese Doppelhochhäuser vom Typ WHH SK (Stahlskelettbau) 72 mit 22 und 25 Geschossen markieren als städtebauliche Dominanten den südlichen Eingang zur Großsiedlung. Ein Haus allein verfügt über 344 Wohnungen, beherbergt also in der Vertikalen gewissermaßen ein komplettes Dorf.

Zu den bekanntesten Ostberliner „Hochhaus“- Architekten, die auch in Marzahn ihrer Spuren hinterließen, gehörten u. a. Werner Straßenmeier, Johannes Gitschel, Manfred Zumpe, Wolfgang Ortmann, Hartmut Pautsch, Joachim Seifert, Rainer Flächsig und Helmut Stingl (siehe Porträt).

 

Fächerhochhäuser an der Marzahner Promenade
Fächerhochhäuser an der Marzahner Promenade

Stillstand nach 1990

In den 1990er Jahren entstanden lediglich an der Raoul-Wallenberg-Straße zwei 14-geschossige Ecktürme zur Schließung der offenen Block­ecken. 2002/03 wurden zwei Doppelhochhäuser in der Marchwitzastraße 1-3 und in der Oberweißbacher Straße 2-4 mit insgesamt 592 Wohnungen sogar abgerissen. Einen anderen Weg beschritt die Wohnungsgenossenschaft Friedenshort eG. Sie sanierte ihre 18-Geschosser aufwendig. Auf den „Flower Tower“ (2012) an der Allee der Kosmonauten folgte 2016 mit dem „Sunrise Tower“ eines der schönsten Projekte der letzten Jahre.

 

 „Sunrise Tower“
„Sunrise Tower“

Dr. Helmut Stingl

Architekt

 

Helmut Stingl hatte maßgeblichen Anteil an der architektonischen und städtebaulichen Gestaltung Ostberlins. Wer heute typische Stingl-Häuser sucht, findet sie in den zwölfeckigen Wohntürmen an der Holzmarktstraße, im Thälmann-Park oder entlang der Allee der Kosmonauten in Marzahn. Das letzte von ihm geplante Viertel ist das Quartier an der Wilhelmstraße. 

Stingl wurde im tschechischen Losdorf geboren. Als der Zweite Weltkrieg vorüber war, siedelte er nach Rostock über, machte dort 1949 Abitur und studierte anschließend bis 1955 Architektur an der Technischen Hochschule Dresden. 

Damit gehörte Helmut Stingl zur ersten in der DDR ausgebildeten Architektengeneration. Nachdem er mehrere Jahre als wissenschaftlicher Assistent am Institut für Städtebau wirkte, übernahm er 1966 beim Berliner Wohnungsbaukombinat die Leitung der dortigen Abteilung Städtebau. Er zeichnete für die Konzeption und Projektierung nahezu aller Wohngebiete in Ostberlin verantwortlich, darunter auch jene an der Marzahner Promenade. 1985 avancierte Stingl zum Chefarchitekten im VEB WBK Berlin. Ihm war Solidität wichtig. Am Ende der DDR stand sein Name für einen guten, flexiblen Plattenbau. Für seine Leistungen wurde er u. a. mit der Schinkelmedaille und dem Nationalpreis der DDR ausgezeichnet. Nach der Wende arbeitete er bis zu seinem Ruhestand im Jahr 1995 als freischaffender Architekt.


Neue Wohntürme

Gegenwärtig werden in Marzahn wieder mehrere Hochhausprojekte realisiert, die zeigen, dass es möglich ist, hoch, dicht und gleichzeitig bezahlbar und klimagerecht zu bauen. So ist an der Mehrower Allee, Ecke Sella-Hasse-Straße nach Plänen des Architekturbüros dorner + partner ein markantes, Wohnhochhaus mit knapp 6.000 m² Wohnfläche entstanden. In dem 12-Geschosser mit Staffelgeschoss sind 40 Wohnungen und 24 Appartements untergebracht. 

Bis Ende 2023 soll zudem das „Wuhletaler Fenster“ an der Märkischen Allee 312 mit seinen 21 Stockwerken fertiggestellt werden. Bereits im Herbst 2022 waren die 203 Wohnungen im Rohbau ein halbes Jahr früher fertig als gedacht. Der Entwurf für das 64 Meter hohe Gebäude stammt vom Architekturbüro Stephan Höhne. 

 

Der Grundstein für ein weiteres zentrales Bauprojekt wurde im Januar 2023 an der Ecke Marzahner Chaussee und Allee der Kosmonauten gelegt. „Leuchtturm“ des künftigen Stadtquartiers ist ein 15-Geschosser mit Staffelgeschoss, der 40 Meter in den Himmel ragen wird. 

 

15-Geschosser der Gewobag an der Allee der Kosmonauten
15-Geschosser der Gewobag an der Allee der Kosmonauten

Fast-Wolkenkratzer in Planung

Bis Ende 2023 könnte auch das Bebauungsplanverfahren für das neue Quartier am S-Bahnhof Marzahn abgeschlossen sein. Auf dem Knorr-Bremse-Areal soll bis 2031 ein gemischtes Quartier mit rund 1.000 Wohnungen, 370 Studierendenapartments, einem Gewerbehof sowie Büros entstehen. An der Nordspitze des Areals ist ein 146-Meter-Wohnhochhaus geplant, in dem 300 Wohnungen auf 46 Etagen Platz finden sollen. Es wäre gegenüber dem Bestand an der Marzahner Promenade mehr als doppelt so hoch. Das Bebauungskonzept hat das Stararchitekturbüro David Chipperfield entwickelt. 

 

Dichter und höher?

Trotz der immer akuter werdenden Wohnungsnot in Berlin werden die Chancen von intelligentem Hochhausbau noch immer kaum ausgeschöpft. Potenzialflächen für solche Projekte gibt es im gesamten Stadtgebiet. Da diese die Umgebung jedoch stark verändern, ist die Akzeptanz gering. Aber das Bauen in die Höhe bietet die Chance, weniger Flächen zu versiegeln und in der Vertikalen unterschiedliche Nutzungen inklusive Grünflächen unterzubringen. Trotz hoher Baukosten lässt sich ein Mehrwert aus Wohnhochhäusern generieren, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Wünschenswert wäre, mehr Mut zu zukunftsgerichteten Vorzeigeprojekten und spektakulärer Architektur – sowohl in der Bevölkerung als auch in der Verwaltung. Oder wie es Kai Wegner noch vor seiner Wahl zum Regierenden Bürgermeister im vergangenen Jahr formulierte: „Nicht nur Träume sollten in Berlin bis in den Himmel wachsen, sondern auch Häuser.” 

 

Der Bauhistoriker Dr. Oleg Peters schaut in den „Rückspiegel“ und gibt in dieser Serie regelmäßig Einblicke in wenig Bekanntes auch aus den Anfangsjahren des Bezirks. Er stellt damalige Akteur:innen im Porträt vor und die historischen Hintergründe dar.