Marzahner Unterwelt

Die stadttechnische Versorgung Marzahns wird über begehbare Kanäle realisiert

Marzahner Unterwelt

Während für die Großsiedlung Hellersdorf typisch ist, dass sie nahezu ausschließlich mit Kapazitäten und „Erzeugnissen des Wohnungs- und Gesellschaftsbaus“ mehrerer DDR-Bezirke errichtet wurde, kann die Großsiedlung Marzahn mit Berlins verzweigtestem und längstem begehbaren Sammelkanal ein Alleinstellungsmerkmal verbuchen.

Erste Sammelkanäle bzw. Leitungstunnel oder Kollektoren wurden bereits Mitte des 19. Jahrhunderts in Paris und London gebaut. Weitere europäische Länder folgten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Im neu gebildeten Groß- Berlin wurden die Zwanzigerjahre zu einer Periode des avantgardistischen Bauens: Neben der Entwicklung der Plattenbauweise 1929 brachte diese Epoche auch den ersten Berliner Sammelkanal hervor. Es ist der aus drei Kanälen bestehende, 3,3 km lange Leitungsgang zwischen den U-Bahnhöfen Schillingstraße und Frankfurter Allee. In den 1930er Jahren begann eine intensive Entwicklung der Kollektorbauweise vor allem in der damaligen Sowjetunion und nach 1950 in den osteuropäischen Ländern.

 

Kanäle in Ost und West

Das Netz der Sammelkanäle in Deutschland ist heute 330 km lang. Seit Ende der 1950er Jahre wurden in der DDR Ein- und Zweikammer-Systeme entwickelt. Die ersten begehbaren Exemplare entstanden ab 1964 in Suhl. Während die Sammelkanäle im westlichen Teil Deutschlands besonders in nichtöffentlichen Bereichen wie der Ruhruniversität Bochum oder dem Messegelände in Köln zu finden sind, erschließen sie im östlichen Teil Deutschlands vorrangig Wohngebiete und bilden daher wesentliche Bauwerke der unterirdischen Infrastruktur vieler ostdeutscher Großstädte. 

 

Längste Trasse Berlins

Berlin verfügt insgesamt über rund 16 km Sammelkanäle. Die verzweigteste und mit 9,8 km längste Trasse liegt als ein geschlossenes System unter Marzahn. 8,7 km davon sind als Zweikammerkanäle ausgeführt. Sie weisen, getrennt durch eine Mittelwand, eine Breite von 4,60 m auf. Die Einkammerkanäle sind 2,40 m breit. Die Höhe beträgt einheitlich 2,70 m. Die übrigen sechs Berliner Strecken verlaufen in benachbarten Neubaugebieten im Nordosten der Stadt und im Bezirk Mitte. Über die Berliner Sammelkanäle werden mehr als 400.000 Einwohner, zahlreiche kommunale und gewerbliche Einrichtungen sowie unterschiedliche Wirtschaftsunternehmen versorgt. 

 

Kombinierte Planungen

Die Baustruktur Marzahns ist bekanntlich ganz wesentlich geprägt durch die Großwohnsiedlungen. Das Ausmaß der bebauten Fläche und die hohe Siedlungsdichte verlangten nach völlig neuen Formen der Erschließung. Also wurden hier in den 1970er Jahren die Planungen für die stadttechnische Versorgung und den „komplexen Wohnungsbau“ erstmals komplett miteinander verschmolzen. Trotz anfänglicher Terminverzögerungen und technischer Mängel konnte damit in Ostdeutschland die höchste Stufe der Koordination begehbarer Leitungssysteme mit den Versorgungseinheiten im oberirdischen Bauraum erreicht werden. 

 

Stadttechnische Erschließung 

Die stadttechnische Erschließung war so konzipiert, dass die Verknüpfung der neuen, aus Stahlbeton-Fertigteilen hergestellten Sammelkanäle mit dem vorhandenen gesamtstädtischen Ver- und Entsorgungssystem problemlos möglich war und für jedes Medium wie Wasser, Strom, Fernwärme und Telekommunikation mehrere räumlich getrennte Einspeisepunkte für die Versorgung großer Flächen verfügbar waren. Auf diese Weise konnten alle erforderlichen Versorgungsleitungen mit minimalem Aufwand direkt an die Endverbraucher herangeführt werden. Begünstigt durch die damaligen Eigentumsverhältnisse ist die kürzeste und damit kostengünstigste Trassenführung zwischen Erzeugern und Endverbrauchern realisiert worden.

 

Zu Fuß unter Marzahn hindurch

Zu den vielen Vorteilen der Sammelkanäle zählt die unkomplizierte Behebung von Störungen und das Nachlegen zusätzlicher Leitungen, ohne dass dafür wie an vielen anderen Orten Berlins Straßen, Höfe und Grünflächen aufgegraben müssen. In Marzahn wird einfach eine Luke geöffnet und alle Leitungen sind zugänglich. Das System umfasst u.a. 340 Einstiegsöffnungen, die dem Wartungspersonal als Zugang dienen. Bis zu 10 Meter unter der Erde kann man durch die Schächte laufen. In bestimmten Abständen befinden sich größere unterirdische Räume, die das Ausdehnen der Rohre bei Temperaturschwankungen ermöglichen. Mit dem, was Rom an Katakomben zu bieten hat, kann Marzahn natürlich nicht konkurrieren, aber die im Ergebnis einer zukunftsorientierten Tiefbauplanung entstandenen Sammelkanäle stehen noch heute beispielhaft für ein sicheres und zukunftsoffenes Versorgungssystem moderner Stadtstrukturen.


Zeit der Maulwürfe: Die Tiefbauer im Einsatz

Die Planierraupen, Bagger, Kipper und Straßenbaumaschinen der Tiefbauer machten den Anfang beim Bau der Großsiedlung und wühlten sich durch den lehmigen Boden. Die Jugendbrigade „Hans Kiefert” vom VEB Tiefbaukombinat Berlin um Brigadier Peter Kaiser (Bildmitte) gehörte sogar zu den bekanntesten ihrer Art in der DDR. Es bedurfte vielfältiger Anstrengungen und Sondereinsätze, um Wohnungen und Anschlüsse für Wasser, Wärme und Strom zeitgleich zu schaffen sowie die Entwässerung und Straßenanbindungen zu sichern. 

Die innere Erschließung der Wohngebiete Marzahns dauerte fast 15 Jahre und erforderte einen Investitionsaufwand von über einer Milliarde DDR-Mark. Die Tiefbauer verlegten neben den Sammelkanälen u. a. 208 km Leitungen für die Wasserversorgung, 337 km Regen- und Schmutzwasserleitungen, 247 km Heizleitungen und 3.800 km Elektroleitungen. Fertiggestellt wurden auch 20 Brückenbauwerke, 22 km Straßenbahnstrecke, 31 km Hauptstraßennetz, 110 km Wohnstraßen einschließlich Gehwegen und 48.600 Parkplätzen.



Der Bauhistoriker Dr. Oleg Peters schaut in den „Rückspiegel“ und gibt in dieser neuen Serie der „Hellersdorfer“ Einblicke in wenig Bekanntes aus den Anfangsjahren des Bezirks. Er stellt damalige Akteure im Porträt vor und die historischen Hintergründe dar.