Hilfsbereitschaft im Bezirk hält an | Interview mit dem Integrationsbeauftragten
Aktiv gegen die Ohnmacht
Sein Postfach läuft über, und auch das Telefon von Dr. Thomas Bryant steht nur noch selten still. Seitdem jeden Tag Tausende Menschen aus der Ukraine am Berliner Hauptbahnhof ankommen, ist der Marzahn-Hellersdorfer Integrationsbeauftragte schwer gefragt. Im Interview spricht er über die riesige Solidarität im Bezirk und die Schwierigkeit, vor der Helferinnen und Helfer stehen, schnell und unkompliziert an zuverlässige Informationen zu kommen. Außerdem äußert sich der 42-jährige Historiker, Politikwissenschaftler und Soziologe zur Debatte über die Ungleichbehandlung von Geflüchteten und zu der Frage, inwieweit der Krieg in Osteuropa das friedliche Miteinander hier im Bezirk gefährden könnte.
■ Vieles in Berlin läuft inzwischen organisierter ab, aber die Betreuung der Ukraine-Geflüchteten lebt weiter stark von ehrenamtlichem Engagement. Viele Privatleute haben Menschen bei sich zu Hause aufgenommen. Doch das Zusammenleben birgt auch Herausforderungen. Halten die Helferinnen und Helfer überhaupt noch lange durch?
Der Einsatz und die Hilfsbereitschaft sind weiterhin beispiellos. Das wurde neulich auch auf einer Informationsveranstaltung für Gastfamilien deutlich, zu der wir als Bezirksamt gemeinsam mit der FreiwilligenAgentur eingeladen hatten. Mein Eindruck dort war nicht, dass die Menschen am Ende ihrer Kräfte sind. Aber man muss schon konstatieren, dass sich die allermeisten von der Bürokratie ausgebremst fühlen.
■ Was wird konkret bemängelt?
Es ist ja nicht allein mit der Unterbringung getan. Wer den ukrainischen Geflüchteten ein Dach über den Kopf gibt, begleitet sie oftmals zu Behörden und möchte bei allen Fragen rund um Registrierung, Wohnungsnachweis, Aufenthaltstitel, Sozialleistungen, medizinische Versorgung sowie Kita-, Schulplatz- und Jobsuche unterstützen. Die größte Schwierigkeit besteht darin, schnell an zuverlässige Informationen und die richtigen Ansprechpersonen zu gelangen. Uns geht es da kaum anders. Ständig ändern sich Dinge. Was gestern noch galt, kann morgen schon wieder anders geregelt sein.
■ Konnten Sie dennoch etwas Licht ins Dunkel bringen?
Wir haben eine ganze Reihe wichtiger Informationen zusammengetragen. Diese wurden auch in einem Flyer gebündelt und verteilt. Wer Fragen hat, findet online auf der mehrsprachigen Plattform des Senats berlin.de/ukraine viele Antworten. Die Informationen werden ständig aktualisiert. Darüber hinaus hält die Webseite berlin.de/ba-marzahn-hellersdorf einen Überblick über bezirkliche Hilfsangebote und Anlaufstellen bereit.
■ Vor einigen Jahren bewegte uns schon einmal eine Flüchtlingskrise. Die Hilfsbereitschaft war damals ebenfalls groß, aber es gab auch rechte Protestbewegungen. Besonders in Erinnerung geblieben ist der 9. Juli 2013, an dem eine Infoveranstaltung zur Notunterkunft in der Carola-Neher-Straße aus dem Ruder lief. Wie groß ist jetzt Ihre Angst vor einem Déjà-vu gewesen?
Wenn man so etwas erlebt hat, schwingt wohl immer ein bisschen Sorge vor Wiederholung mit. Zumal niemand seine Hände dafür ins Feuer legen kann, dass nicht einzelne Personen oder Gruppen eine Notsituation für Hetze nutzen. Aber ich sehe da momentan keine signifikanten Anzeichen.
■ Warum ist die Zahl besorgter Bürgerinnen und Bürger offenbar geringer als damals?
Sicherlich haben sich die Menschen inzwischen ein Stück weit an Flucht und Vertreibung gewöhnt. Das war 2013 noch anders. Der Großteil der Bewohnerinnen und Bewohner kannte dieses Phänomen allenfalls aus dem Geschichtsbuch oder aus den Erzählungen der Eltern beziehungsweise Großeltern. Heute ist Marzahn-Hellersdorf deutlich bunter.
Außerdem gibt es kaum jemanden, den das Schicksal der Ukraine nicht berührt. Dort geschieht gerade himmelschreiendes Unrecht. Angesichts der dramatischen Ereignisse bleibt den Leuten kaum etwas anderes übrig, als aus ihrer Heimat zu fliehen. Wer sollte ihnen ernsthaft verwehren wollen, sich vor den Bomben und Raketen bei uns in Sicherheit zu bringen?
■ Die hier lebenden Menschen aus Ländern wie Syrien, Afghanistan oder Somalia sind ebenfalls geflohen, weil sie Angst um ihr Leben hatten. Nicht alle wurden und werden mit offenen Armen empfangen. Integrationsexperten sprechen von einer drohenden Zweiklassengesellschaft unter den Geflüchteten. Sehen Sie das ähnlich?
Meines Erachtens sind es sogar mehr als zwei Klassen. Wir hatten schon vor dem Ukraine-Krieg Geflüchtete mit guter und schlechter Bleibeperspektive. Jetzt fokussieren sich die Anstrengungen extrem auf die Ukrainerinnen und Ukrainer. Ohne Frage: Die Soforthilfe ist absolut notwendig und richtig. Aber sie unterscheidet sich ganz wesentlich von der sonstigen Asylpraxis. Wer zum Beispiel aus dem Senegal kommt, hat es um ein Vielfaches schwerer als eine Familie aus Kiew, hier aufgenommen zu werden, eine Wohnung zu finden und Leistungen vom Sozialamt zu beziehen.
■ Teilen Sie den Eindruck, dass auch in der Zivilgesellschaft die Hilfsbereitschaft gegenüber Ukrainerinnen und Ukrainern gewaltiger ist als gegenüber Menschen aus dem globalen Süden?
Ja, das deckt sich mit meinen Beobachtungen. Ein Beispiel: Kürzlich erhielten wir im Integrationsbüro einen Anruf zum Thema Spenden. Wir haben auf unsere bezirkliche Spendenkammer im Pritzhagener Weg verwiesen, aber erklärt, dass die Sachen nicht ausschließlich an Ukraine-Geflüchtete, sondern generell an Bedürftige weitergereicht werden. Die Person meinte daraufhin: „Ach so, das könnte dann unter Umständen auch Leuten aus Syrien zugutekommen? – Na, dann lieber nicht.“
■ Wie erklären Sie sich derartiges Verhalten?
Das Telefonat ist natürlich ein krasser Fall, der absolut nicht zur Verallgemeinerung taugt. Aber man kann schon sagen, dass uns die Ukraine sowohl soziokulturell als auch geografisch näher ist als andere Herkunftsländer. Da der Krieg fast vor unserer Haustür stattfindet und niemand weiß, ob sich die Kampfhandlungen nicht noch weiter Richtung Westen ausdehnen, sind Mitgefühl und Empathie viel ausgeprägter.
■ Vielen hilft ihr Engagement und Tatendrang aber auch gegen Angst und Ohnmachtsgefühle. Welche Möglichkeiten gibt es überhaupt, sich einzubringen?
Ich empfehle das Online-Portal der FreiwilligenAgentur. Dort wird über Spendenmöglichkeiten informiert. Vor allem aber können sich Bürgerinnen und Bürger, in einer Datenbank registrieren. Sobald eine Hilfsaktion zum eigenen Profil passt, geht eine Benachrichtigung per E-Mail raus. Die Unterstützungsmöglichkeiten sind sehr vielfältig und reichen von Sprachmittlung, Kinderbetreuung und Freizeitgestaltung bis zur Begleitung bei Behördengängen.
■ Lassen Sie uns abschließend noch über den Brandanschlag auf die Lomonossow-Schule am 11. März sprechen. Der Vorfall hat Befürchtungen geschürt, die große russischsprachige Community in Marzahn-Hellersdorf könnte vermehrt Zielscheibe für Hass und Gewalt werden. Wie schätzen Sie die Situation aktuell ein?
Bislang haben wir es mit Einzelfällen zu tun. Was viele auch vergessen: Die Community der sogenannten Russlanddeutschen ist sehr heterogen. Manche haben Wurzeln in Russland, andere in Kasachstan oder der Ukraine. Als Bezirksamt werden wir nicht müde, bei unseren Bewohnerinnen und Bewohnern für ein wertschätzendes und verständnisvolles Miteinander zu werben. Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg ist schlimm genug und aufs Schärfste zu verurteilen. Niemand bei uns trägt daran Schuld und jeder sollte sein Bestes dafür geben, dass wir hier alle in Frieden leben können und uns den Alltag nicht gegenseitig schwer machen.