Keine Verschnaufpause für den neuen Bezirksbürgermeister

Auf Gordon Lemm wartet eine Reihe von Herausforderungen

Keine Verschnaufpause für den neuen Bezirksbürgermeister

Seit vier Wochen ist Gordon Lemm (SPD) neuer Bürgermeister von Marzahn-Hellersdorf. Statt um den Kitaausbau, saubere Schultoiletten, Sportplätze und Familienhilfen muss sich der ehemalige Bezirksstadtrat nun unter anderem um Geld und Personal, die langen Wartezeiten in den Bürgerämtern, den Wirtschaftsstandort Marzahn-Hellersdorf und ums große Ganze kümmern. Im Interview spricht der 44-Jährige über einige Themen, die ihn derzeit besonders beschäftigen.

■ Herr Lemm, Sie hatten es bereits in Ihrer Antrittsrede angekündigt: Der Bezirk steht vor der ausgesprochen schwierigen Aufgabe, ein drohendes Haushaltsloch in zweistelliger Millionenhöhe zu stopfen. Wie kommt dieses Defizit zustande?

Die Ämter des Bezirks überschlagen zu Beginn der Haushaltsplanaufstellung immer, wie viel Geld sie für das Haushaltsjahr benötigen, um ihre Aufgaben angemessen erfüllen zu können. Das für 2022 ermittelte Budget deckt sich leider überhaupt nicht mit der sogenannten Globalsumme, die uns der Senat zuweisen will. Es klafft eine Lücke von 23 Millionen Euro. 

 

■ Wie wollen Sie diese Lücke schließen?

Zunächst einmal werden wir auf unsere Ersparnisse zurückgreifen und Rücklagen in Höhe von sieben Millionen Euro einsetzen. Außerdem dürfen wir ein Prozent unseres 600-Millionen-Euro-Etats als pauschale Mehrausgaben ausweisen. Diese sechs Millionen Euro müssen wir im laufenden Haushalt allerdings zusätzlich einnehmen oder einsparen.

 

■ Bleiben immer noch zehn Millionen Euro für einen ausgeglichenen Haushalt. Das ist eine ganze Stange Geld. Wo wird der Bezirk den Rotstift ansetzen müssen?

Das werden die bevorstehenden Beratungen zeigen. Woran nicht gespart werden darf, sind meines Erachtens der Kinderschutz und die Schulreinigung. Ich lehne auch die Schließung von Einrichtungen ab. Unser Finanz- und Personalbereich wird eine Streichliste vorlegen. Dann sind die einzelnen Ämter gefragt, ihrerseits Vorschläge zu machen. Idealerweise sind wir in der Lage, zehn Millionen Euro einzusparen, ohne dass die Bürgerinnen und Bürger die Kürzungen stark zu spüren bekommen. Ich befürchte aber, dass das nicht so ohne weiteres möglich sein wird. Das Thema wird uns in den kommenden Wochen stark beschäftigen. Bis 18. März müssen wir den von der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) beschlossenen und hoffentlich ausgeglichenen Haushaltsplanentwurf beim Land Berlin abliefern.

 

■ Im Bezirk ist nicht nur das Geld knapp. Der Verwaltung fehlen auch etliche Beschäftigte. 300 von 1.900 Stellen sind aktuell unbesetzt. In welchen Bereichen macht sich die dünne Personaldecke besonders stark bemerkbar? 

Unser Gesundheitsamt zum Beispiel ist seit Jahren notorisch unterbesetzt, was vor allem daran liegt, dass es für Ärztinnen und Ärzte deutlich lukrativer ist, in der freien Wirtschaft zu arbeiten. Seit der Pandemie sind unsere Medizinerinnen und Mediziner mit dem Infektionsschutz voll ausgelastet, sodass ihnen Zeit für so wichtige Leistungen wie die Schuleingangsuntersuchungen fehlt. Das ist gerade deshalb dramatisch, weil es in Marzahn-Hellersdorf viele einzuschulende Kinder mit Auffälligkeiten und Entwicklungsverzögerungen gibt. Eigentlich wäre es sogar sinnvoll, zusätzlich Voruntersuchungen in der Kita bei den Drei- und Vierjährigen durchzuführen. Denn je früher Defizite erkannt werden und ein Kind Unterstützung und Förderung erfährt, desto größer sind die Chancen, die Schwierigkeiten aus der Welt zu schaffen. Diese Aufgabe war für die Amtsärztinnen und -ärzte aber schon vor der Pandemie nicht zu leisten.

Folgen hat der Personalmangel auch im Regionalen Sozialpädagogischen Dienst (RSD), wo von 92 Stellen im Schnitt ständig 15 unbesetzt sind. 

 

■ Also bleibt der Kinderschutz auf der Strecke?

Nein, der hat oberste Priorität. Bei allem, was akut ist, machen wir keine Abstriche. Kinder, die vernachlässigt werden oder Gewalt erleiden, stellen zum Glück nicht den Großteil der Fälle dar. Es geht vor allem auch um Beratung und Prävention. Ein Beispiel sind Konflikte rund um Scheidung. Unser Anspruch ist es, in dieser Situation zu moderieren und die Familien zu begleiten. Doch wenn Mitarbeitende bis zu 100 Fälle betreuen, fehlt an allen Ecken und Enden Zeit, sich adäquat diesen und anderen Herausforderungen in den Familien widmen zu können. Oft springen dann freie Träger ein. 

 

■ Und wie sieht es mit Personal im Baubereich aus?

Im Hochbau fehlt ein Viertel der Belegschaft, im Straßen- und Grünflächenamt sogar ein Drittel. Die Kolleginnen und Kollegen leisten viel und machen einen tollen Job. Gerade die Schulbauoffensive bindet viele Kräfte. Andere Vorhaben wie die Sanierung von Kitas, Jugendfreizeiteinrichtungen und Bürodienstgebäuden fallen da manchmal hinten runter. Wir mussten sogar schon Geld für geplante Maßnahmen zurückgeben, weil die personellen Kapazitäten nicht ausgereicht haben. Das ist extrem ärgerlich.

 

■ Die angespannte Situation könnte sich noch verschärfen: Auf den öffentlichen Dienst rollt eine Verrentungs- und Pensionierungswelle zu.

Das stimmt. Bis 2030 werden 51,2 Prozent der Mitarbeitenden aus Altersgründen ausscheiden – so viele wie in keinem anderen Berliner Bezirk. Es liegt viel Arbeit vor uns, die freien und frei werdenden Stellen zu besetzen. 

 

■ Wie wollen Sie das schaffen? 

Wir müssen mit den Einstellungen auf jeden Fall schneller werden. Wenn eine Stelle ungeplant frei wird oder neu geschaffen wurde, dauert es ungefähr ein Jahr – manchmal sogar länger – bis sie besetzt ist. Allein das Ausschreibungsverfahren ist ein komplizierter und langwieriger Prozess. Hier braucht es Beschleunigung. Außerdem kann es nicht angehen, dass Bewerberinnen und Bewerber monatelang auf eine Rückmeldung warten. Meine neue Referentin zum Beispiel hatte ihr Einstellungsgespräch Mitte August. Ihr Arbeitsvertrag liegt noch immer nicht vor. 

 

■ Manchmal mangelt es auch an Interessenten für eine Stelle. Wie will der Bezirk mehr Nachwuchskräfte für die Verwaltung gewinnen?

Wir wollen verstärkt in sozialen Medien präsent sein und zusätzlich eine Imagekampagne starten. Außerdem steckt noch viel Potenzial in den Stellenausschreibungen. Die sind häufig so formuliert, dass sich junge Menschen nicht angesprochen fühlen. Vor allem Behördendeutsch und lange Aufgabenprofile schrecken ab. 

Fest steht: Wir müssen das Thema Recruiting unbedingt angehen, weil wir mit den anderen Bezirken, dem Land Berlin, dem Bund und der freien Wirtschaft in Konkurrenz um den Fachkräfte-Nachwuchs stehen. Letztere drei bezahlen häufig auch noch besser. Das macht es nicht unbedingt leichter.

 

■ Welche Vorteile bietet Ihres Erachtens ein Job im öffentlichen Dienst?

Auf jeden Fall geregelte Arbeitszeiten, flexible Arbeitszeitmodelle und auch eine faire Bezahlung. Junge Menschen, die eine Familie gründen wollen, fühlen sich hier gut aufgehoben, weil ihr Arbeitsplatz sicher ist. Außerdem sind die Tätigkeiten meist abwechslungsreich, bürgernah und sinnstiftend. Wer im öffentlichen Dienst arbeitet, trägt zum Wohlergehen der Gesellschaft bei. Wir sorgen dafür, dass alle Kinder einen Schulplatz bekommen, reparieren Schlaglöcher, pflegen die Grünanlagen, sind stark in die Pandemiebekämpfung eingebunden und, und, und …

Übrigens, so verstaubt und steif, wie viele denken, ist es in der Verwaltung nicht. Es finden sich hier viele coole Kolleginnen und Kollegen und das Arbeitsklima in den Teams stimmt auch.

 

■ Ein anderes Thema: Sie planen, einen offenen Brief an die scheidende Sozialsenatorin zu schreiben. Darin sprechen Sie sich für eine gerechtere Verteilung von Geflüchteten auf die Bezirke aus. Ist in Marzahn-Hellersdorf kein Platz mehr?

Um das gleich vorab klarzustellen: Jeder Mensch, der zu uns kommt, ist bei uns willkommen. Und wir setzen alles daran, die bestmöglichen Bedingungen zu schaffen, um Zufluchtsuchende hier in die Gesellschaft aufzunehmen. Momentan sind wir mit dieser Aufgabe aber vollends ausgelastet und sehen uns nicht in der Lage, noch mehr Menschen angemessen unterzubringen. Marzahn-Hellersdorf ist der Bezirk, der die meisten Plätze in Unterkünften bereitstellt. Mit einer Kapazität von 3.837 Plätzen haben wir mehr Unterbringungsmöglichkeiten als die Bezirke Friedrichshain-Kreuzberg, Mitte, Neukölln und Charlottenburg Wilmersdorf zusammen. Nächstes Jahr eröffnet die MUF in der Zossener Straße. Dann kommen noch einmal 250 Plätze hinzu. Seit Langem wird uns versprochen, die Einrichtungen künftig gerechter über die Stadt zu verteilen. Das waren bislang nur Lippenbekenntnisse.

 

■ Sollen noch weitere Unterkünfte im Bezirk entstehen? 

Im Brebacher Weg sollte eine neue modulare Unterkunft gebaut werden. Jetzt ist am Standort von Sanierung die Rede. Zudem will das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) nächstes Jahr die Gemeinschaftsunterkunft in der Bitterfelder Straße in eine Erstaufnahmeeinrichtung umwandeln und die Kapazität von derzeit 550 auf 800 Plätze erhöhen. Wir als Bezirk sehen das kritisch. Vor allem weil die Schulkapazitäten nicht ausreichen und wir keine weiteren Willkommensklassen mehr einrichten können. Schon jetzt werden Kinder und Jugendliche in den Unterkünften unterrichtet, was eigentlich vermieden werden sollte, weil es zu Lasten des Integrationserfolgs geht. Unser Appell an das Land Berlin ist, Integration gemeinsam zu schultern und eine faire Verteilung anzustreben. Auch wenn in anderen Bezirken eventuell Freiflächen fehlen, wird es dort ganz sicher Gebäude geben, die zu Notunterkünften umfunktioniert werden können.