Mit dem Sonderzug nach Hellersdorf

Am 17. September beginnt die 20. pyramidale, das Festival für Neue Musik

Mit dem Sonderzug nach Hellersdorf

„Hat sich ganz gut entwickelt” – die Komponistin und Pianistin Susanne Stelzenbach klingt bescheiden, wenn sie im Interview mit der „Hellersdorfer” über „ihr Baby”, die jährliche pyramidale spricht. Die Mahlsdorferin war einst Mitinitiatorin. Inzwischen organisiert und betreut sie das „Festival für Neue Musik und interdisziplinäre Kunstaktionen“ an Marzahn-Hellersdorfer Kulturorten seit vielen Jahren künstlerisch leitend. Zum nunmehr 20. Mal beehren einige der besten Komponist*innen und Interpret*innen der Neuen Musik im deutschsprachigen Raum den Bezirk am östlichen Rand der Stadt.

Frau Stelzenbach, Sie vertreten die Neue Musik. Was ist das?

Der Begriff Neue Musik gilt für viele Musiksparten, treffender ist hier der Begriff zeitgenössische Musik. Ohne in Einzelheiten zu gehen – man komponiert nicht nur fürs Publikum! 

 

Bei der pyramidale sind Sie von Anfang an federführend dabei. Warum in Marzahn-Hellersdorf?

Ich meine, dass man dort, wo man lebt, im Sinne von „denke global, agiere lokal“ etwas für die Gemeinschaft beitragen sollte. Es muss nicht gleich ein ganzes Festival sein, denn das ist mit großem Aufwand verbunden. Mir machte es aber immer sehr viel Spaß, und wir haben tolle Ideen umgesetzt.

 

Eine Ihrer Ideen war die Tramophonie. Wie kam es dazu?

Der Impuls für das Konzert in der Straßenbahn kam von einer Künstlerin aus der Berliner City. Um nach Hellersdorf zur Riesaer Straße zu kommen, nutzte sie einfach die durchgehende Linie M6 ab Hackescher Markt. Die Sonderfahrt der BVG für unsere Tramophonie führt direkt zum Ziel, ohne Zwischenhalt. Während der Fahrt unterhalten wir die Gäste mit Performances, die neben der Neuen Musik auch andere Kunstsparten, zum Beispiel die Literatur, mit einbeziehen. Die meisten der fahrenden Zuhörer hätten sonst keinen Fuß auf Marzahn-Hellersdorfer Boden gesetzt.

 

Musikliebhaber – in der Regel gebildete Menschen – beeindruckt der unverdient schlechte Ruf?

Was den Ruf des Bezirks betrifft, so ist es nach meinem Eindruck in den letzten Jahren wieder schlimmer geworden. Man hört manchmal böse Sprüche wie: „Na, fährst du wieder nach Moskau!?” Das muss man wegstecken. Was die Musik betrifft, so hätten wir im Bezirk selbst gern noch mehr Menschen erreicht. Manchmal sagt jemand: „Was, so was gibt’s hier?” Andererseits waren die Veranstaltungen, auch im Coronajahr 2020, sehr gut besucht. Und jetzt zum Jubiläum ist das Medieninteresse erfreulich groß. Der Deutschlandfunk bringt eine ganze Sendung über die pyramidale und der RBB sagte wieder die Medienpartnerschaft zu.

 

Nach ihren Spitzendarbietungen reisen Künstler oft hungrig und von Umfeld wenig inspiriert ab.

Leider ja. Viele Interpreten kommen aus anderen Städten, in diesem Jahr aus Offenbach am Main und aus Dresden. Sie müssen hier vor Ort proben, machen Pausen und nach dem Konzert wollen sie noch ein bisschen zusammenkommen, etwas essen, miteinander reden. Ein Café ganz in der Nähe wäre da wichtig, übrigens auch für das Publikum, um den Abend noch ausklingen zu lassen. Solche gemütlichen Plätze vermissen wir an allen Marzahn-Hellersdorfer Spielorten, also an der Pyramide, am ORWOhaus und auch am BIZ. In anderen Stadtteilen Berlins oder in Potsdam erlebe ich das komplett anders. In unserem Bezirk stelle ich mir eine mobile Gastronomie für Imbiss und Ausschank vor, bedarfsgerecht das ganze Jahr über an Orten der Kultur. Vielleicht fühlt sich  hier jemand angesprochen?

 

Wie umfangreich sind Ihre Vorbereitungen für das Festival?

Es ist sehr viel zu organisieren. Kaum waren die Abrechnungsformalitäten erledigt, liefen schon die Vorbereitungen für das nächste Jahr an. 

 

Warum so zeitig?

Oftmals werden Interpreten anderweitig sehr früh gebucht. Wichtig sind immer auch die Finanzen, denn der Bezirk konnte in der Regel nur einen kleinen Teil beisteuern. In den letzten Jahren förderten uns diesbezüglich zum Beispiel das Land Berlin, die STADT und LAND und der deutsche Komponistenverband. Dafür mussten wir rechtzeitig umfangreiche Anträge mit schlüssigen Konzepten stellen.

Wenn wir damit keinen Erfolg hatten, musste das Programm geändert und gekürzt werden. Manchmal halfen auch Komponisten, die dem Festival sehr nahe stehen, indem sie sogar einen Teil der Musikerhonorare übernahmen oder auf Fördertöpfe im Ausland verwiesen, zum Beispiel in der Schweiz. 


Susanne Stelzenbach

www.susanne-stelzenbach.de

Zur Person

Studium an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ Berlin, Hauptfach Klavier. Als Komponistin ist Susanne Stelzenbach durch ihre langjährigen Erfahrungen als Pianistin zeitgenössischer Musik geprägt. Das Werkverzeichnis umfasst elektronische Musik, Musiktheater, Orchesterwerke und Texte. Ihre Kompositionen werden von namhaften Interpret*innen weltweit aufgeführt und im Rundfunk gesendet. Von 1992 bis 2008 entstanden in Co-Autorenschaft mit Ralf Hoyer zahlreiche Musiktheaterwerke, Konzert- und Klanginstallationen. 2011 ist Susanne Stelzenbach Komponistin der international vielbeachteten Unter-Wasser-Oper „AquAria-PALAOA – Das Alter der Welt“ (Idee: Claudia Herr, Sängerin). 2015 Uraufführung der Komposition „Luftspiel“. 2019 Aufführung der Komposition ATEMPAUSE durch das Sonic Art Saxophon-Quartett beim Canberra International Music Festival „Bach on the Mountain“ Australien.

Susanne Stelzenbach erhielt zahlreiche Kompositionsstipendien, Aufträge und Preise.



Sie sprechen in der Vergangenheitsform, warum?

20 Jahre sind ein großartiges Jubiläum und zugleich wird es wohl der Abschied vom Label pyramidale sein. Mein herzlicher Dank für die Unterstützung geht unter anderem an die Kulturstadträtin Juliane Witt, an Carolina Winkler vom Ausstellungszentrum Pyramide, die von Anfang an die Tür für das Festival öffnete und auch an die im Bezirk lebenden Bildenden Künstler Lutz Beckmann und Birgit Schöne für ihre temporär bereichernde Arbeit. 

 

Sie schreiben gut, finde ich.

Das Schreiben eignete ich mir begleitend zur pyramidale an. Aber tatsächlich schreibe ich seit vielen Jahren auch Texte für musiktheatralische Formate. Es sind meistens Collagen aus zufällig aufgeschnappten Worten und Sätzen, auch Schlagzeilen aus Zeitungen, die ich neu zusammenstelle. 

 

Wurden Künstler der „ernsten Musik“ in der DDR gefördert?

Wenn man so guckt – alle guten Musiker kommen aus Thüringen (lacht). An den entsprechenden Bildungseinrichtungen herrschte ein produktives, menschlich zugewandtes Klima. Meine Eltern arbeiteten in der Landwirtschaft im Kreis Greiz. Sie haben mir vieles ermöglicht, aber die musikalischen Grundlagen verdanke ich komplett den engagiert fördernden Musiklehrern. Einmal setzten sie sogar durch, dass ich dem UTP, also dem „Unterricht in der Produktion“ fernbleiben und dafür weiter an meinem Instrument üben konnte. Während meiner Schulzeit gewann ich erste Preise und hatte sogar Auftritte in Berlin.

 

Den Studienabschluss hinzugerechnet, war ein steiler Start ins Berufsleben nur logisch.

Leider nicht. Als ich das Diplom in der Tasche hatte, sagte man mir: „Der Staat hat das Studium bezahlt, wir brauchen Sie dringend für drei Jahre am Lehrerbildungsinstitut in Templin.“ Es war die Hölle, die Freizeit war sehr eingeschränkt, man kam da gar nicht raus. Also bin ich nachts auf meinem Fahrrad abgehauen. Das hatte heftige Konsequenzen, die im Grunde bis zum Ende der DDR anhielten. So arbeite ich schon mein ganzes Leben lang freiberuflich.

 

Gespräch: Ute Bekeschus

 


 

pyramidale#20 | TRANSITION

Vom 17. bis 19. September feiert das „Festival für Neue Musik und interdisziplinäre Kunstaktionen“ pyramidale unter dem Motto TRANSITION mit Konzerten und Performances in- und outdoor sein 20-jähriges Bestehen. Das vielfältige Programm mit aktuellen Werken der Neuen Musik wird von Künstlerinnen, Künstlern und Ensembles an verschiedenen Orten in Marzahn-Hellersdorf präsentiert. Der Eintritt für alle Veranstaltungen ist frei, Spenden sind erbeten. Für den Einlass gilt die 3G-Regel.

Freitag, 17. September 2021 

1. Festivaltag im ORWOhaus (Frank-Zappa-Straße 19)

19.00 Uhr: CHANGE I | SOLO & ORCHESTER.

JSO der Hans-Werner-Henze-Musikschule Marzahn-Hellersdorf.

Musikalische Leitung: Jobst Liebrecht. Irene Kurka und Katia Guedes, Sopran 

 

Samstag, 18. September 2021 

2. Festivaltag

17.00 Uhr: STILLE Post aus LAUTEN Archiven.

TRAMOPHONIE – Konzert in der Straßenbahn. 

BVG-Sonderfahrt vom Hackeschen Markt bis zur Riesaer Straße.

 

Weiter geht es im Ausstellungszentrum Pyramide (Riesaer Straße 94):

18.30 Uhr: STIMMEN BESTIMMT. 

Ensemble AuditivVokal (Dresden). Musikalische Leitung: Olaf Katzer

21.00 Uhr: NIGHTMARE

Inszeniertes Konzert. Ensemble Broken Frames Syndicate 

 

Sonntag, 19. September 2021

3. Festivaltag 

17.00 Uhr: EINSTEIGEN und ABHEBEN.

Solo-Performances in Gondeln der Seilbahn über den Gärten der Welt.

Ein- und Ausstieg Station Kienbergpark

18.00 Uhr: CHANGE II.

sonic.art Saxophonquartett Berlin. Irene Kurka – Sopran.

Ort: Bezirkliches Informationszentrum (Hellersdorfer Straße 159)

 

Weitere Informationen auf www.pyramidale-berlin.de