Netzwerk im Bezirk will Ein-Eltern-Familien passgenauer als bisher unterstützen
Wissen, was Alleinerziehende brauchen
Berlin ist Hauptstadt der alleinerziehenden Mütter und Väter. Auch in Marzahn-Hellersdorf lebt in über 30 Prozent aller Familien nur ein Elternteil mit den Kindern. Alleinerziehend zu sein ist also keine Randerscheinung. Trotzdem sind Arbeits- und Wohnungsmarkt, das Steuersystem, Kinderbetreuung und Gesundheitsprävention unzureichend auf das kleine Familienmodell ausgerichtet. Für die Lebensrealität und Bedürfnisse von Alleinerziehenden fehlt häufig der Blick. Diesen zu schärfen hat sich Manja Finnberg auf die Fahnen geschrieben.
Coronakrise trifft Alleinerziehende hart
Wobei es überwiegend die Interessen von Frauen sind, die Finnberg in Gremien und Arbeitskreisen vertritt, was daran liegt, dass die allermeisten Kinder nach der Trennung der Eltern bei der Mutter bleiben. Über 90 Prozent der Alleinerziehenden in Marzahn-Hellersdorf sind Frauen. Tagein tagaus wird ihnen enorm viel abverlangt: Sie müssen Geld verdienen, für die Kids da sein, den Haushalt schmeißen und Behördenkram erledigen. Oft ist die Woche minutiös durchgetaktet. Schon kleine Abweichungen vom Plan können alles durcheinanderwirbeln – und krisenhafte Situationen, wie wir sie seit über einem Jahr erleben, bringen das gesamte Gerüst zum Wanken.
„Was jede*r Einzelne von uns in der Pandemie zu spüren bekommt, trifft Alleinerziehende fast in doppelter Art und Weise“, sagte neulich Marzahn-Hellersdorfs Familienstadtrat Gordon Lemm (SPD) bei einer Infoveranstaltung, zu der das Netzwerk für Alleinerziehende gemeinsam mit der Selbsthilfe-, Kontakt- und Beratungsstelle der Wuhletal gGmbH eingeladen hatte. Manja Finnberg stellte dort Unterstützungsmöglichkeiten für die Bewältigung des Familienalltags in Corona-Zeiten vor und Eltern berichteten von ihren ganz persönlichen Herausforderungen in der Krise. So klagte Teilnehmerin Christina darüber, wie schwierig es für sie derzeit sei, ihren 15-jährigen Sohn noch für den Distanzunterricht zu motivieren und Dreifach-Mama Julia verwies auf die finanziellen Sorgen aufgrund von Kurzarbeit, Verdienstausfall und Jobverlust. Dass eine Teilnehmerin kurzfristig absagen musste, weil sie keine Betreuung für ihr Kind organisieren konnte, überraschte in der Runde niemanden wirklich.
Mit der Kinderbetreuung steht und fällt alles
Aus zahlreichen Gesprächen weiß Manja Finnberg: Kinderbetreuung ist für viele Alleinerziehende von unschätzbarem Wert. Immerhin steht und fällt damit ihre Erwerbstätigkeit. Auch außerhalb der Kita-Zeiten sind Ein-Eltern-Familien stärker als zusammenlebende Paare auf ein differenziertes Angebot angewiesen, gerade wenn keine Großeltern in der Nähe wohnen. Für eigentlich selbstverständliche Dinge wie Vorsorgeuntersuchungen, Sport oder Elternabende fehlt dann die Zeit – ganz zu schweigen vom „Luxus“, sich mal um sich selbst zu kümmern oder Freunde zu treffen.
Jeanette, Mutter einer achtjährigen Tochter, kennt das nur zu gut. Sie ist berufstätig, arbeitet 40 Stunden pro Woche und sagt: „Es ist für mich extrem schwierig, Karriere und Kinderbetreuung unter einen Hut zu bekommen, obwohl wir schon bis in die Haarspitzen optimiert sind.“ Ihre Kleine sei sehr selbstständig, fahre alleine zur Schule und auch die Urgroßmutter helfe regelmäßig mit aus. „Trotzdem fällt immer irgendetwas hinten runter.“ Freizeitaktivitäten kommen nur infrage, merkt Jeanette an, wenn sie ihr Kind mitnehmen könne und es vor Ort betreut werde. In der Frauensporthalle im Freizeitforum Marzahn sei das der Fall. Weit und breit gebe es nichts Vergleichbares.
Manja Finnberg nickt und merkt an, dass die Kinderbetreuung bei der Konzeption und finanziellen Ausstattung von Angeboten eigentlich immer gleich mitgedacht werden müsse. Denn was nützen gute Hilfen, wenn die Mütter und Väter keine Chance haben, sie in Anspruch zu nehmen.
Ein wenig neidisch schaut die Netzwerkkoordinatorin auch nach Lichtenberg. Dort gibt es Orte, an denen Alleinerziehende ihre Kinder spontan für ein paar Stunden von geschultem Personal beaufsichtigen lassen können. Zehn Stadtteil- und Familienzentren bieten diese sogenannte flexible Kinderbetreuung inzwischen an. Viele Familien würden sich das auch für Marzahn-Hellersdorf wünschen.
MANJA FINNBERG
ist die neue Koordinatorin
der Netzwerkarbeit für Alleinerziehende in Marzahn-Hellersdorf
E-Mail: m.finnberg@frauenzentrum-marie.de | Telefon: 0163 515 20 45
Büro: Frauenzentrum Marie | Flämingstraße 122 | 12689 Berlin
Internet: www.frauenzentrum-marie.de
Wo sind die familienfreundlichen Unternehmen?
Weitere Themenschwerpunkte der Netzwerkarbeit sind der Anspruch auf bezahlbaren Wohnraum und auf einen Job, der zur Situation der Alleinerziehenden passt. Jeanette, die Mutter mit der achtjährigen Tochter, etwa wünscht sich eine spezifische Berufsberatung. Sie selbst hat zwei Studienabschlüsse und geht derzeit einer Arbeit nach, für die sie eigentlich überqualifiziert ist. Familienfreundliche Arbeitgebende, die ihre familiäre Situation nicht als Handicap auffassen, sondern ihr Potenzial sehen, sucht sie bisher vergebens.
Welche Vielfalt sich hinter dem Begriff „Alleinerziehende“ verbirgt, zeigt der Blick auf eine andere Gruppe im Bezirk, die ebenfalls gezieltes berufliches Coaching benötigt: Gemeint sind die Teenie-Mütter. Beim Projekt „TeeMo“ im Haus Windspiel ((Golliner Straße 4) der JAO gGmbH finden sie eine Anlaufstelle im Bezirk. Berufsberatung und -orientierung könnte dort bald mehr in den Fokus rücken, denn viele Nutzer*innen des Angebots stellen sich die Frage, wie es nach dem Mutterschutz mit der Schule und Ausbildung weitergehen soll. „Mir wäre es ein großes Anliegen, dass diese Frauen, die ja zu Hause ohnehin schon viel Care-Arbeit leisten, nicht unbedingt noch in schlecht bezahlte soziale Berufe geschoben werden, nur weil in dieser Branche Personal gebraucht wird“, sagt Manja Finnberg und verweist auf die über Tausend Marzahn-Hellersdorfer Alleinerziehenden, die ihr Einkommen mit Hartz IV aufstocken müssen, weil ihr Verdienst nicht zum Leben reicht.
Lange To-do-Liste für die Koordinatorin
Die Vielfalt der Themen zeigt: Es gibt jede Menge zu tun im Netzwerk, das seit April 2010 besteht. Damals, vor zehn Jahren, hatte sich Marzahn-Hellersdorf als erster Bezirk auf den Weg gemacht, die Hilfen für Alleinerziehende besser zu koordinieren. Inzwischen gibt es das senatsfinanzierte Modell in elf Bezirken. Manja Finnbergs Stelle ist beim Frauenzentrum Marie e. V. angesiedelt. Sie erhofft sich von den neuen Strukturen einen besseren Austausch der Bezirke untereinander und mehr „Stimmgewalt“, um die Themen der Eltern stärker in das Bewusstsein von Politik und Gesellschaft zu rücken. Ganz oben auf der Agenda der Marzahn-Hellersdorfer Koordinatorin steht eine statistische Erhebung zu Alleinerziehenden im Bezirk. Die letzte ist schon ein paar Tage alt. Sie stammt aus dem Jahr 2014.
Viel Luft nach oben sieht Finnberg auch in Sachen Öffentlichkeitsarbeit. Außerdem soll es möglichst noch in diesem Sommer einen Workshop mit Ein-Eltern-Familien geben. Der Austausch mit den Expert*innen in eigener Sache sei ihr besonders wichtig, um deren Bedarfe zu erfahren, betont die Koordinatorin. Viel zu häufig werde über Alleinerziehende geredet – und nicht mit ihnen.