Interview mit Matthias Müller-Guth, Psychologe und Paartherapeut
Corona-Alltag von Familien: Tipps für Elternpaare
Die Corona-Krise verursacht in Familien gerade enorme Stress- und Ausnahmesituationen. Die Betreuung der Kinder, Homeschooling, Homeoffice, räumliche Enge und mitunter finanzielle Sorgen können auch die Beziehung der Eltern zueinander belasten. Matthias Müller-Guth ist Psychologe und Paartherapeut am SOS-Familienzentrum in Hellersdorf. Er weiß: Jetzt geht es darum, sich als Individuum und als Paar nicht aus dem Blick zu verlieren. Davon profitieren am Ende auch die Kinder, denn nur ein gutes Team kann den Nachwuchs in der Krise begleiten und auffangen. Im Interview gibt der Experte Tipps für den Umgang mit Konflikten.
Die momentane Situation zu Hause ist für Eltern ganz schön herausfordernd. Wie wirkt sich das auf die Paarbeziehung aus?
Menschen reagieren unterschiedlich auf Stress. Unser Gehirn kennt in solchen Ausnahmesituationen vor allem zwei Modi: Flucht und Angriff. Flucht ist zurzeit schwierig und so richtet sich dann die Wut über die missliche Situation gerade gegen die Nächsten und Liebsten. Das führt natürlich leicht zu Konflikten. Es ist zunächst wichtig, sich diese Gemengelage klarzumachen. Und sich selbst, aber auch dem Partner diesen Impuls für den Moment zuzugestehen. Diese Haltung hilft oft schon, damit besser umgehen zu können.
Dass man sich momentan quasi nicht aus dem Weg gehen kann, stresst die Partner ebenfalls: Eigenarten des anderen, über die man im Alltag bei weniger Begegnung hinwegsieht, kommen jetzt viel stärker zum Tragen. Die Verhaltensbiologie kennt die sogenannte „Individual-Distanz“, die Tiere wie Menschen brauchen: Nähe ist wichtig, aber nicht dauerhaft und ständig! Daher sollten Eltern nun Wege finden, auch mal auseinanderzurücken.
Auch Unterschiede im Umgang mit den Kindern kommen jetzt viel stärker zum Vorschein und bieten Konfliktpotenzial.
Es ist ganz normal, dass Erziehungsziele und -stile sich unterscheiden, denn jeder Mensch ist anders erzogen worden. Kinder wissen schnell ganz genau, mit welchen Anliegen sie bei Mama eher durchkommen und bei welchen Themen Papa nachsichtiger ist – und natürlich versuchen sie, die Situation für sich zu nutzen. Um dem vorzubeugen, gilt wie so oft: reden, absprechen, austauschen! Eltern sollten sich auf eine gemeinsame Linie verständigen. Vor allem bei Konfliktthemen muss ein Mittelweg gefunden werden, den beide Elternteile mitgehen und vor den Kindern vertreten können. Außerdem sollten Zuständigkeiten klar besprochen und auch den Kindern so kommuniziert werden. Man kann zum Beispiel nach Themen oder Zeiten aufteilen: der eine ist fürs Essen zuständig, der andere für die Schulaufgaben; der eine montags, der andere dienstags; Papa morgens, Mama nachmittags. Egal wie, eine abgestimmte Struktur ist unabdingbar und entspannt die Situation enorm. Wichtig dabei, wenn auch manchmal schwierig: Wenn der andere Elternteil dran ist, sollte man nicht „reingrätschen“. Vor allem nicht vor den Kindern, denn das untergräbt Handlungsfähigkeit und Autorität.
Wie gehen Eltern konstruktiv mit Meinungsverschiedenheiten um? Was sollten Paare tun, wenn es wirklich zu Eskalationen kommt und wie kann man Kinder beruhigen, wenn sie Streit mitanhören mussten?
Streit ist oft auch ein Ventil. Das sollte einem klar sein, denn so lässt sich über manche Angriffe auch mal leichter hinwegsehen. Wenn die Situation dann doch mal eskaliert, hat sich bei vielen Paaren ein abgesprochenes „Stopp-Signal“ als sehr hilfreich erwiesen. Dann muss der Streit ausgesetzt werden und alle haben Zeit durchzuatmen und sich zu sortieren. Wichtig ist hier: Das Thema muss wieder aufgenommen werden und zwar von dem, der den „Stopp“ gesetzt hat. Zudem: eine Entschuldigung kann im Miteinander Wunder wirken und hat noch keinen umgebracht …
Streit vor den Kindern sollten Eltern generell vermeiden. Vor allem darf man Kinder nicht zwingen, Partei zu ergreifen. Nach einer lauteren Auseinandersetzung sollte man sie altersgerecht beruhigen, nicht aber inhaltlich einbinden, das würde sie nur überfordern. Die Verantwortung für den Streit muss klar bei den Eltern verbleiben. Auch Kindern gegenüber kann man sich übrigens für einen Streit entschuldigen.
Was können die Partner für sich und somit auch für ihre Kinder tun?
Elternpaare sollten Möglichkeiten finden, Raum für den Einzelnen zu schaffen. Und jeder Partner steht in der Verantwortung, auf sich zu schauen: Was brauche ich, was ist mir zu viel? Sich kleine Inseln der Ruhe schaffen, ein wenig Zeit für sich selbst haben, die Akkus aufladen – alles, was dem Einzelnen guttut, wirkt sich auch positiv auf die Paarbeziehung und die ganze Familie aus. Gemeinsame Zeit, die nicht von Alltagsproblemen beherrscht wird, gibt viel Kraft: Zeit für Gespräche über positive, schöne Dinge; Zeit für kleine Rituale, wie die Lieblingsserie zusammen weiterschauen oder regelmäßig gemeinsam laufen zu gehen. Auch kleine Aufmerksamkeiten können viel bewirken – sei es ein kleines Essen zu kochen, das dem anderen besonders schmeckt, oder auch nur ein lustiges Foto der Kinder weiterzuleiten. Doch wenn die Situation immer wieder eskaliert und die Partner keinen gemeinsamen Weg finden, ist es ratsam, sich Hilfe zu holen. Erziehungs- und Familienberatungsstellungen bieten aktuell auch telefonisch Unterstützung an und helfen, Wege aus scheinbar festgefahrenen Situationen zu finden.
Interview: Magdalena Tanner
Brauchen Sie einen Ratschlag oder Unterstützung?
Die Expert*innen des SOS-Familienzentrums Hellersdorf (Alte Hellersdorfer Straße 77) sind für Erziehungs- und Familienberatung montags bis freitags von 9 bis 18 Uhr unter T. (030) 56 89 10-0 oder per E-Mail unter fz-berlin@sos-kinderdorf.de zu erreichen.
Auf der Homepage www.sos-kinderdorf.de/familienzentrum-berlin finden Eltern weitere hilfreiche Tipps und Anregungen, um die momentane Belastungssituation besser gemeinsam zu meistern.