Der AlpinClub Berlin betreibt den Wuhletalwächter und weitere Kletteranlagen
Wo Hauptstädter Höhenluft schnuppern
Klettern boomt sogar im Flachland. Während sich in der Szene lange Zeit hauptsächlich Sportler bewegten, die in der Natur echte Berge bezwangen, sind in den letzten Jahren überall künstliche Kletteranlagen wie Pilze aus dem Boden geschossen. Gipfelstürmen ist seither auch vor der Haustür möglich. So hat sich der Exoten- zum Breitensport gemausert. Und da der Hauptstädter ja bekannt dafür ist, hoch hinaus zu wollen, verwundert es wohl nur im ersten Moment, dass inzwischen sage und schreibe 25.000 Berlinerinnen und Berliner dem Deutschen Alpenverein (DAV) angehören.
Eine von vier Berliner Sektionen des DAV ist der AlpinClub Berlin. Wenn nicht gerade ein Virus namens Corona grassiert, betreiben die Flachland-Alpinisten fünf verschiedene Kletteranlagen, darunter seit 22 Jahren den Wuhletalwächter im Marzahner Eichepark. Neben Training für verschiedene Altersgruppen, Wettkämpfen und Kursen gehören Ausflüge, Gruppenfahrten, Ski-Expeditionen und Wandertouren zum pulsierenden Vereinsleben.
Arno Behr ist Vorsitzender der Sektion. Nicht ohne Stolz blickt er auf die Entwicklung der vergangenen Jahre zurück. Als er 1995 sein Amt antrat, lag die Mitgliederzahl noch bei etwas mehr als 600 Aktiven. Inzwischen ist sie auf 4.500 in die Höhe geschnellt. „Trenddisziplinen wie das Bouldern haben uns sehr viele junge Leute in den Verein gebracht“, freut sich der 71-Jährige. Auch der Frauenanteil unter den Mitgliedern steige kontinuierlich. Aktuell liegt er bei 40 Prozent.
IN TOKIO OLYMPISCH
Behr sagt, der Sport begeistere Kinder wie Rentner gleichermaßen. Das liegt nicht zuletzt an der Vielseitigkeit. Denn Bergsüchtige und Abenteurer kommen hier ebenso auf ihre Kosten wie coole Teenager und wanderlustige Naturliebhaber. Weil 90 Prozent der Muskulatur beansprucht werden, ist Klettern sogar unter Fitnessfreaks zum Geheimtipp geworden. Es gibt sogar immer mehr Spätbeginner: „Wenn die Kinder aus dem Haus sind, entdecken viele Menschen mittleren Alters Bergwandern und Skitouren für sich“, weiß der Vorsitzende zu berichten. Älteren Semestern gehe es neben dem Hobby vor allem um Geselligkeit: „Die treffen sich regelmäßig zum Seniorensport und trinken danach gemeinsam einen Kaffee oder veranstalten Spielenachmittage.“ Und bei den Jüngeren stehe der Fun-Faktor im Vordergrund, das Sich-beweisen-Wollen und der Ehrgeiz, immer neue Schwierigkeitsgrade zu meistern. Im nächsten Jahr, wenn die Sommerspiele in Tokio nachgeholt werden, wird Klettern erstmals olympisch sein – mit einem Mehrkampf aus den Disziplinen Lead (mit Seil), Speed (Geschwindigkeitsklettern) und Bouldern (ohne Sicherung).
HOCHGEFÜHLE UND DRAMEN
Wann ihn das Kletterfieber gepackt hat, weiß Arno Behr noch ganz genau: „Wir waren Anfang der Achtziger mehrere Tage mit dem Rucksack in der Fränkischen Schweiz unterwegs. Es folgten Wanderungen in den Voralpen, der Schweiz und schließlich auch Alpenüberquerungen. Dabei wurden wir unweigerlich mit Stellen konfrontiert, die stark ausgesetzt oder sogar mit Drahtseil gesichert waren. Das fanden wir spannend.“ Weil das Fingerkribbeln nicht weggehen wollte, trat er kurzerhand in den Alpenverein, um zu lernen, wie man gekonnt Berge erklimmt. Der Rest ist Geschichte.
Nachdem Arno Behr alle Höhepunkte des Bergsports und auch tragische Momente mit Toten und Verletzten erlebt hat, lässt es der Berliner heute etwas ruhiger angehen. „Es geht hier um eine Risikosportart, das darf man nicht vergessen. In speziellen Kursen werden die Teilnehmenden von uns darin geschult, wie sie richtig gesichert ins Eis und in den Schnee gehen oder eine Felswand erobern.“ Wenn sie dann eigenständig auf Tour seien, könne es zu lebensgefährlichen Unfällen kommen – sei es wetterbedingt, wegen Selbstüberschätzung, einem Spaltensturz oder Steinschlag. Er selbst ist vor einigen Jahren im Frankenjura schwer verletzt worden, als sein Kletterpartner abrutsche und ihm aus etwa sechs Metern Höhe auf den Kopf krachte. „Ich musste mit dem Hubschrauber und dem Verdacht auf eine Wirbelsäulenfraktur abtransportiert werden. Beide Unterkiefergelenke waren gebrochen, der Hals aufgeschnitten. Das hat schon Wirkung gezeigt.“
WÄCHTER ÜBER DAS WUHLETAL
Aber so etwas würde nicht beim Training passieren, stellt Behr klar. Auch am Wuhletalwächter habe es noch keine schwereren Unfälle gegeben. Seit 1998 betreibt und betreut der AlpinClub Berlin den sechsseitigen Kletterfelsen an der Ecke Havemann- und Kemberger Straße in Marzahn. Der 17,50 Meter hohe Koloss wurde einst aus 550 Betonplatten ehemaliger Balkone errichtet und verfügt über verschiedene Aufstiegsrouten und Schwierigkeitsgrade. Zu den Besonderheiten der Anlage gehört, dass sie öffentlich zugänglich ist. „Das Bezirksamt hatte sich beim Bau dagegen ausgesprochen – mit der sympathischen Begründung, man wolle keine Mauern und Zäune“, erinnert sich Behr. Damit sich Laien oder Kinder aber nicht in Gefahr bringen, wurden die Kletterrouten so konzipiert, dass Anfänger ohne Vorkenntnisse nicht in der Lage sind, die erste Sicherung zu erreichen.
Vor fünf Jahren musste der Wuhletalwächter erstmals saniert werden. Die Kosten in Höhe von 40.000 Euro teilten sich Verein und Bezirk. Für die Verkehrssicherungspflicht, Instandhaltung und Pflege der künstlichen Kletteranlagen des AlpinClub Berlin müssen Behr und seine Mitstreiter jährlich zwischen 5.000 und 15.000 Euro in die Hand nehmen. „In diesem Zusammenhang appellieren wir an die Solidarität aller Kletterinnen und Kletterer, die den Felsen regelmäßig nutzen, sich durch eine Mitgliedschaft oder eine kleine Spende an den Kosten zu beteiligen.“
Im Vergleich zu vielen anderen Vereinen erhebt der AlpinClub sehr niedrige Mitgliedsbeiträge: Erwachsene zahlen 72 € im Jahr, junge Erwachsene 45 € und Kinder 36 €.
www.alpinclub-berlin.de