Ex-Bundesministerin Christine Bergmann setzt sich für den Schutz unserer Jüngsten ein
Ein großes Herz für Kinder
Christine Bergmann (80) war eine der ersten Frauen aus dem Osten, die den Sprung in die große Bundespolitik schafften. Nachdem sie unter Eberhard Diepgen Senatorin für Arbeit, berufliche Bildung und Frauen war, holte Gerhard Schröder die promovierte Pharmazeutin 1998 in sein Kabinett. Ihr Ressort titulierte er damals etwas verächtlich als Bundesministerium für „Familie und das andere Gedöns“ und meinte damit Senioren, Frauen und Jugend.
Als Ministerin trat die Sozialdemokratin für die Betreuung unter Dreijähriger ein, „erfand“ die Elternzeit und sorgte dafür, dass Kindern heute eine gewaltfreie Erziehung per Gesetz garantiert ist. Die Jüngsten unserer Gesellschaft zu schützen, war der gebürtigen Dresdnerin schon immer eine Herzensangelegenheit. Im Interview mit der „Hellersdorfer“ spricht Christine Bergmann über die Arbeit in der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, ihre Anfänge in der Politik und übers Pilgern. Außerdem gibt sie Wahlkampftipps und verrät, wo in Marzahn-Hellersdorf sie sich am liebsten aufhält.
Frau Bergmann, beschäftigen sich seit vielen Jahren mit furchtbaren Vergehen an Kindern und Jugendlichen – im familiären Umfeld, in Heimen, Internaten, Kirchen und Vereinen. Warum tun Sie sich das an?
Weil die Kommissionsarbeit wirklich Sinn macht und noch viel zu wenig für die Opfer getan wurde. Wenn mir 50-jährige Männer und Frauen gegenübersitzen und ihre Geschichte erzählen, sehe ich immer noch das Kind vor mir, das so sehr leiden musste und keine Hilfe bekommen hat – was nur schwer zu begreifen und zu ertragen ist. Aber ich erlebe auch, wie viel den Betroffenen die Anerkennung des erfahrenen Unrechts bedeutet und wie sie dafür kämpfen, dass andere nicht erleben müssen, was sie durchgemacht haben.
Leider hat das Thema nichts an Aktualität eingebüßt.
Ja, so ist es. Missbrauch hört nie auf. Wir befürchten, dass derzeit mehr als zehn Prozent aller Kinder sexualisierte Gewalt erfahren. Das sind ein bis zwei Kinder pro Schulklasse.
Die katholische Kirche steht wegen sexuellen Missbrauchs seit Jahren in der Kritik. Der Sport hingegen lief lange unterm Radar. Das ändert sich gerade.
Die Tabuisierung des Themas ist enorm. Ansehen der Sportart, des Vereins und des Sports in seiner Gesamtheit stehen auf dem Spiel. Wer aufdeckt, Täter und Strukturen benennt, gilt als Nestbeschmutzer. Gerade im Leistungssport hindern Abhängigkeitsverhältnisse, die Angst vor dem Karriere-Aus und dergleichen Betroffene daran, sich zu öffnen. Im Breitensport begünstigen die häufig sehr familiären Strukturen in vielen Vereinen den Täterschutz.
Rechnen Sie mit einer ähnlichen Opferzahl wie bei den Kirchen?
Die Zahlen, von denen wir derzeit ausgehen, überschreiten die Dimension der kirchlichen Fälle sogar noch. Weit mehr als die Hälfte aller Kinder und Jugendlichen sind hierzulande im Sport organisiert. Um sie besser vor Missbrauch zu schützen, muss in Sachen Prävention und Aufarbeitung viel passieren. Die Unabhängige Kommission hat zu Jahresbeginn eine Kampagne gestartet: Über die Medien wurden Betroffene aufgerufen, sich bei uns für ein vertrauliches Gespräch zu melden oder auch einen Bericht zu schicken.
Wovon wird da erzählt?
Die Opfer berichten, was ihnen angetan wurde und wie sich das auf ihr weiteres Leben auswirkte. Deutlich wird dabei auch, dass viele Taten hätten bemerkt werden müssen. Und es ist immer wieder erschütternd zu hören, wie die Kinder im Stich gelassen wurden, wenn sie sich jemandem anvertraut hatten und dass ihnen nicht geglaubt wurde.
Sie haben sich immer auch für die Gleichstellung von Mann und Frau stark gemacht. Was waren in dieser Hinsicht große Meilensteine der vergangenen 30 Jahre?
Fortschritte gab es bei der Bekämpfung häuslicher Gewalt. So wird heute nicht mehr den Opfern zugemutet, aus der gemeinsamen Wohnung auszuziehen, sondern der Schläger muss gehen.
Eine der größten Errungenschaften ist sicher die volle Akzeptanz der Erwerbsarbeit von Frauen und Müttern, was auch im Zusammenhang mit dem Ausbau von Kinder-Betreuungsangeboten und dem Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz gesehen werden muss. Hier hat der Westen vom Osten gelernt.
Und welche Geschlechterungerechtigkeit regt Sie bis heute auf?
Ganz klar: die bestehende Unterbewertung frauentypischer Berufe. Die Corona-Krise zeigt doch ganz deutlich, wer das Land am Laufen hält. Das sind überwiegend Frauen in schlecht bezahlten Berufen. Wir müssen die Lohnlücke endlich schließen und zwar jetzt.
Wie ist eigentlich 1989 aus der Pharmazeutin die Politikerin Christine Bergmann geworden?
Ich war eigentlich davon überzeugt, die Arbeit in der Stadtverordnetenversammlung gut mit meinem Institutsjob unter einen Hut bringen zu können. Doch dann endete die erste Fraktionssitzung im Mai 1990 für mich als designierte Stadtverordnetenvorsteherin und ich kehrte nie wieder an meinen Arbeitsplatz zurück. Wir wollten die demokratische Veränderung, also mussten wir auch Verantwortung übernehmen. Es war manchmal hart, aber ich habe den Wechsel in die Politik nie bereut.
Bei der Wahl zur Stadtverordnetenversammlung im Mai 1990 erreichte Ihre Partei in Hellersdorf 32,4 Prozent. Davon träumen die Genoss*innen im Bezirk heute.
Und da waren wir noch enttäuscht, weil die Vorhersagen weitaus höher lagen. Die gegenwärtige Situation ist natürlich unbefriedigend. Die Leistungen der sozialdemokratischen Politiker*innen auf allen Ebenen können sich durchaus sehen lassen, aber es ist viel Vertrauen verloren gegangen.
2021 steht ein Superwahljahr an. Ihre Tipps für den Wahlkampf?
Es kommt darauf an, den Kontakt zu den Bürger*innen zu suchen, auch direkt durch Hausbesuche und an Ständen. Das ist nicht uncool. Die SPD muss im öffentlichen Raum sichtbar sein. Die Themen liegen auf dem Tisch. Der letzte Parteitag hat viel zum Thema Zukunft der Arbeit gesagt. Auch die Situation nach der Corona-Krise bewegt alle.
Hausbesuche und Infoblätter verteilen – war das Ihre Sache?
Durchaus. Das ist sozusagen die Stunde der Wahrheit. Wer einige Male am Stand verbracht hat, weiß sehr genau, wie die Stimmung ist. Kommen die Leute zu dir, um zu reden oder auch Kritik zu üben, besteht Hoffnung für die Wahl. Gehen sie mit Verachtung vorbei, sieht es böse aus.
Sie haben fast 30 Jahre lang in Kaulsdorf gewohnt. Kommen Sie hin und wieder noch zu Besuch?
Eher selten. Aber wenn ich da bin, verschlägt es mich auf den Dorfanger zu der wunderbaren Kirche, um deren Renovierung und Restaurierung sich die Evangelische Kirchengemeinde und etliche Unterstützer*innen aus dem Bezirk mit viel Mühe und Herzblut gekümmert haben.
Apropos Kirche, Glaube und Spiritualität: Sie sind 2016 den Jakobsweg gegangen. Welchen Wert hatte das Pilgern für Sie?
Ich hatte zuvor schon lange den Wunsch gehegt, diesen Pilgerweg zu gehen. Nach dem Tod meines Mannes, mit dem ich 52 Jahre verheiratet war, brauchte ich eine Auszeit, um mein Leben neu zu ordnen. Die gut 800 Kilometer lange Tour war für mich eine ganz besondere Erfahrung.
Ihr Enkel war mit von der Partie – eine interessante Konstellation.
Julius hatte nach dem Abitur Zeit und Lust, mit mir zu laufen. Das fand ich natürlich wunderbar, zumal er sich während der langen Krankheit meines Mannes sehr um seinen Großvater gekümmert hatte. Wie zuvor vereinbart, gingen wir unterwegs auch mal getrennte Wege und sind einige Routen ganz allein gelaufen. Das tat uns beiden sehr gut.
Foto: Barbara Dietl