Ein packendes Stück Lokalgeschichte


Die Märkische Wachsschmelze in Kaulsdorf:

Ein packendes Stück Lokalgeschichte

Otto Rechnitz und Frieda Hirsekorn waren die Köpfe des einst bedeutenden Kaulsdorfer Chemiebetriebs „Märkische Wachsschmelze“ (1919–1970). Seit einer Weile spürt Manja Finnberg den Lebenswegen des jüdischen Fabrikanten und seiner einstigen Prokuristin nach. Die Historikerin ist dabei auf zwei bemerkenswerte Persönlichkeiten gestoßen. Deren noch wenig bekannte Geschichte will sie nun erlebbar machen.

Trotz bunter Reklame und der teilweise gewöhnungsbedürftigen Fassadengestaltung gibt das historische Eckgebäude an der B1, Ecke Chemnitzer Straße noch immer ein eindrucksvolles Bild ab. Dass an dem Ort fast fünf Dekaden lang Putzmittel, Kerzen, Seifen, Öle und Parfüme produziert wurden, aber wissen die wenigsten.

Manja Finnberg ist vor vier Jahren mit ihrer Familie nach Kaulsdorf gezogen. Das Haus sei ihr gleich aufgefallen, sagt die 41-Jährige. Als sie auf einige Publikationen der Ortschronistin Karin Satke zur „Märkischen Wachsschmelze“ stieß, war das Interesse der Historikerin geweckt. „Ich habe sofort eine Geschichte vermutet, die noch mehr Interessantes enthält als das bis dahin Bekannte.“  Vor allem die Biografien des jüdischen Inhabers Otto Rechnitz und der späteren Firmenchefin Frieda Hirsekorn haben es Finnberg angetan.

 

Opfer des „Judenboykotts“

Rechnitz, Jahrgang 1867, gehörte in Berlin zu den ersten jüdischen Unternehmern überhaupt, die zur Aufgabe und Veräußerung ihrer Geschäfte gezwungen wurden. Bereits im April 1933 – die Nazis waren noch keine drei Monate an der Macht und hatten zum ersten offiziellen „Judenboykott“ aufgerufen – durfte er seine Firma nicht mehr betreten. Warum der Kaufmann derart früh ins Visier des Regimes geriet, ist eine von vielen Fragen, die Manja Finnberg umtreiben. Als Lieferant für zahlreiche Behörden in Berlin bekam er die antijüdischen Gesetze der Stadtverwaltung wohl besonders schnell zu spüren. Doch auch in seiner Belegschaft muss es einige überzeugte Nationalsozialisten gegeben haben, die ihn tyrannisierten und enorm unter Druck setzten.

 

Eine Frau als Firmenchefin

So kam es, dass Otto Rechnitz die Geschäftsleitung an seine 34 Jahre alte Prokuristin Frieda Hirsekorn übergab und ihr das Unternehmen gegen Ratenzahlung verkaufte. Doch ein ehemaliger Mitarbeiter erhob den Vorwurf, das „Bürofräulein“ Hirsekorn sei nur als Strohpuppe eingesetzt worden und Rechnitz verdiene weiterhin am Staat. Daraufhin wurde die Chefin zur Fabrikleiterin degradiert und musste mit ansehen, wie mehrere von den Nazis eingesetzte Geschäftsführer den Betrieb finanziell gegen die Wand fuhren. 1937 meldete die „Märkische Wachsschmelze“ Konkurs an. Bei der Zwangsversteigerung holte sich Frieda Hirsekorn den mittelständischen Betrieb zurück und führte ihn bis zu ihrem Tod im Jahr 1970 erfolgreich weiter.

Otto Rechnitz, vor den Schergen geschützt durch eine „Mischehe“, starb 78-jährig am 9. November 1945, gezeichnet von den jahrelang erlittenen Torturen.

 

Geschichte zum Anfassen

Seinen 75. Todestag will Manja­ Finnberg zum Anlass nehmen, um für den jüdischen Fabrikbesitzer und Frieda Hirsekorn einen temporären Gedenkort zu schaffen. Geplant ist eine Ausstellung mit Texttafeln und großformatigen Fotografien in den ehemaligen Geschäftsräumen der „Märkischen Wachsschmelze“, wo heute das Sportstudio „Die Bewegungsebene­“ seine Räume hat. Außerdem soll die Geschichte der zwei Geschäftsleute szenisch dargestellt werden. Dafür konnte der Schauspieler Hans Walter Machowiak­ gewonnen werden. Unterstützt wird die Aktion vom Bezirkskulturfonds und der bezirklichen Kommission Gedenkorte. Auch Karin Satke ist mit im Boot.

 

Kontakt zu Nachfahren

Ursprünglich war die Veranstaltung für den 10. Mai im Rahmen der Initiative „Denk mal am Ort“ geplant. Bei dem Projekt entdecken Menschen die Geschichte ihrer im Nationalsozialismus verfolgten Vormieter und öffnen rund um den Jahrestag des Kriegsendes ihre Privaträume für Besucher. In den authentischen Wohn- und Lebensorten der Opfer finden dann Lesungen, Ausstellungen und Führungen statt.

Angesichts der ungewissen Dauer der Corona-Krise muss die Initiative in diesem Jahr virtuell stattfinden. Manja Finnberg nimmt für das Erinnern an Rechnitz und Hirsekorn in Kaulsdorf nun den 9. November 2020 in den Blick.

So bleibt auch mehr Zeit für das Sichten von Quellen, für Archivrecherchen und die Kontaktaufnahme zu Nachfahren. Inzwischen weiß die Historikerin, dass Otto Rechnitz aus seinen zwei Ehen sechs Kinder hatte. Davon sind fünf emigriert. Nur Tochter Beate, heute 94 Jahre alt, lebt noch in Berlin. Bei einem Treffen vor wenigen Wochen in Dahlem hat Manja Finnberg von ihr viel über die Familienverhältnisse des Geschäftsmannes und das bedrückende Leben in den Jahren zwischen 1933 und 1945 erfahren. Frieda Hirsekorn hingegen blieb kinderlos. Aber sie hatte Geschwister. Bekannt ist, dass ihr Neffe Willy Appel, dessen Tochter noch in Kaulsdorf wohnt, auch in der Wachsschmelze tätig war.

 

Forschungslücken füllen

Noch ganz am Anfang steht Manja­ Finnberg bei ihren Recherchen zum mutmaßlichen Zwangsarbeiterinnenlager am Standort: „Ich möchte dazu unbedingt Dokumente finden.“ Die Forschungslücke ist eklatant: Bislang gibt es lediglich einen Zeitzeugenbericht. Darin heißt es, die Fenster des heutigen Asia-Restaurants seien in den 1940er Jahren blindgestrichen und von außen mit Stacheldraht „gesichert“ worden. „Dieses Gebäude wurde 1938 unter Zwangsverwaltung gestellt. Auf die Nutzung der Räume hatte Frieda Hirsekorn keinen Einfluss“, stellt Finnberg klar. Trotzdem interessiere sie, wie die Kaulsdorferin zu dem Lager stand und ob sie versucht habe, den Frauen dort das Leben irgendwie zu erleichtern. Schließlich heißt es von Hirsekorn, die dem Netzwerk des evangelischen Pfarrers und Widerstandskämpfers Heinrich Grüber angehörte, sie habe nicht nur einen ausgeprägten Geschäftssinn gehabt, sondern auch eine soziale Ader. Im Mai 1945 richtete die Unternehmerin an der B1 eine Suppenküche ein, die auch Schulen mit Essen belieferte.