Immer bewegt, niemals still

Karin Dalhus setzt sich bis heute für das Gemeinwohl ein

Immer bewegt, niemals still

Die studierte Pädagogin Karin Dalhus durchlebte 22 Mal das System ABM. Doch aufgeben kam für sie nicht infrage. Noch immer, mit Ende 60, setzt sie sich ehrenamtlich für mehr Demokratie im Bezirk ein. Und sie singt im Arbeiter- und Veteranenchor in Neukölln, was auch etwas mit ihrer Gesinnung zu tun hat. Ihre  Mundharmonika indes begleitet sie seit vielen Jahren. 2004  erhielt Karin Dalhus den Ehrenamtspreis der BVV und 2018 die Berliner Ehrennadel für besonderes ehrenamtliches soziales Engagement.

 

Gute Aussicht hier in Marzahn bei Ihnen im 6. Stock!

Ich schaue gern auf meinen Kiez rund um die Martha-Arendsee-Straße, wohne hier seit Jahrzehnten und habe die Entwicklung mit vorangetrieben. So hat sich 2001 unsere Bürgerinitiative für eine bessere Nahversorgung eingesetzt. Aber es fehlt noch einiges.

 

Was genau fehlt im Kiez?

Eine Grundschule und eine Bürgerbegegnungsstätte. Ein solide gebautes Schulgebäude direkt vor unserem Zehngeschosser ist einst abgerissen worden, Kitas und ein Seniorenheim ebenfalls. Bei mir gegenüber hat nach 28 Jahren ein beliebtes Bistro zugemacht. Wenigstens öffnet daneben demnächst ein „Ristorante“.

 

Die Sporthalle ist geblieben.

Die Sporthalle des Fechtzentrums Berlin wurde in 14 Monaten aufwendig saniert. Der Lärm nervte ab früh um sieben. Zur Einweihung kamen zwei Bezirksstadträte hierher. Wenn Sie mich fragen, wäre es eine tolle Geste gewesen, die Anwohner mit einzuladen.

 

Sie mischen ja trotzdem gut mit.

(Lächelt) Ich verstehe mich nicht als „Mitmischerin“ und auch nicht als „Bürgerin”. In der Nachbarschaft und als politisch Denkende sehe ich meine Verantwortung in einem Netzwerk von Gleichgesinnten. Daher sind mir die meisten Vereine, Ini­tiativen und Arbeitsgemeinschaften im Bezirk gut bekannt.

 

Was bewegt Sie zurzeit?

Ich bin zwar Rentnerin, beschäftige mich aber auch mit Themen der Arbeitswelt. Als Linksorientierte geht es mir um die Erinnerungskultur für die Opfer des Nationalsozialismus und gegen den heutigen Rechtspopulismus. Ich bin Mitglied der Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen!“ und trete für die Rechte der Frauen ein.

 

Sie sächseln noch ein bisschen.

Ich komme aus Leipzig. Mit drei Monaten nahm mich eine Pflegemutter im Leipziger Stadtteil Alt-Lindenau auf. Der Mutsch blieb ich bis zu ihrem Tod eng verbunden, da war sie 86 und ich 29, natürlich stand ich damals schon längst mit beiden Beinen im Leben. Eine Kindheit mit so vielen Geschwistern, dass ich sie heute gar nicht mehr zusammenzählen kann – das hat mir viel gegeben.

 

Für Pflegekinder gab es vom Staat gerade mal 40 DDR-Mark.

Auch deswegen wurde ich bereits mit zwölf Jahren „Co-Pflegemutter“ und übernahm Verantwortung für jüngere Pflegekinder. Wir Älteren im Haushalt halfen aber auch bedürftigen Menschen im Kiez. Kauften für sie ein, machten sauber. Das war sozusagen Ehrensache. Ich war sehr gern Jung- und später Thälmann-Pionier.

 

Wie hat Ihre Familie gelebt?

Kein Vergleich zu heute! Holz und Kohle luden wir beim Kohlehändler auf unseren Handwagen. Beim Gemüsehändler holten wir den Kartoffel-Vorrat bis zur nächsten Ernte. Für die Körperhygiene nutzten wir eine Zinkwanne im Waschkeller. Im Sommer stellten wir uns in den Regen und manchmal besuchten wir in unserem Leipziger Stadtteil Alt-Lindenau eine öffentliche Badewannen-Anstalt. Gleich nebenan gab es eine tolle Schwimmhalle!

 

Waren Sie sportlich aktiv?

In Lindenau erprobte ich mich im Turnen­, Schwimmen, Handball und in der Leichtathletik. Aber auch in der Plagwitzer Bibliothek machte ich aktiv mit. Später erlernte ich den Maurerberuf.

 

Suchten Sie Ihre leiblichen Eltern?

Als ich mich 1993 auf die Suche begab, musste ich erfahren, dass meine Mutter bereits 1982 in Düsseldorf verstorben war. Mein Vater lebt in Leipzig. Zu ihm, seiner Frau und auch zu meinen Geschwistern in Düsseldorf habe ich sehr guten Kontakt.

 

Die Maurerin Karin wurde Funktionärin. Wie kam das?

Ich wurde angesprochen. Funktionärsnachwuchs suchte man in der DDR oft unter einfachen Arbeitern. Ich wurde Freundschaftspionierleiterin und arbeitete an einer Schule mit 800 Mädchen und Jungen.

 

Sie brachten beste Erfahrungen aus der Pflegefamilie mit.

Ja, das stimmt. Es ging weiter mit einem Fernstudium an jenem Institut, an dem ein paar Jahre später Petra Pau studierte. Ich wurde in Leipzig erst stellvertretende Vorsitzende und dann bis 1975 Vorsitzende der Pionierorganisation „Ernst Thälmann“. Danach ging es bis 1981 in die FDJ-Bezirksleitung. Unter anderem war ich mitverantwortlich für die Aus- und Weiterbildung von Freundschaftspionierleitern.

 

Irgendwann landeten Sie in Berlin. Waren Sie auf Karriere aus?

Mir persönlich waren Worte wie „Karriere“ und „Macht“ in der DDR völlig fremd. Ich legte einfach los und ging dorthin, wo man mich brauchte. Als Alleinstehende ohne Kinder wurde ich übrigens oft ausgenutzt und geografisch ziemlich hin- und hergeschubst. Nach Berlin kam ich 1981, wo ich ein Zusatzstudium absolvierte. Helga Labs, die Vorsitzende der Pionierorganisation, wollte mich in Berlin halten. Im Zentralrat der FDJ war ich Mitarbeiterin für Organisationsleben und für Aus- und Weiterbildung. Ich beteiligte mich an der Organisation von Pioniertreffen, der Erdgastrasse „Freundschaft“, der FDJ-Initiative Berlin und an weiteren jugendpolitischen Höhepunkten. 1985 bekam ich eine Wohnung in Marzahn.

 

Marzahn war nun neue Heimat?

Nicht ganz. Ich wurde noch mit der Organisation von weiteren Pioniertreffen beauftragt, zuletzt 1988 in Karl-Marx-Stadt. Irgendwann hatte ich die Nase voll von Wohnungen, Wohnheimen und vom Pendeln.

 

Das heißt, Sie kehrten der Pionierorganisation den Rücken zu?

Eine solche Absicht wusste Wilfried Poßner, der Nachfolger von Helga Labs, zu verhindern. Er drohte, mich unehrenhaft zu entlassen. Also machte ich weiter mit vielen Veranstaltungen in der Republik. Wir mussten übrigens – ganz offiziell – Berichte über die Stimmungslage schreiben, doch wenn sie negativ ausfielen, sind sie erst gar nicht angenommen worden! Folglich wurden sie frisiert, also umgeschrieben.

 

Wie haben Sie die Wende erlebt?

1989 war ich Horterzieherin­ an der Oberschule „Adolf Hennecke“. Bald verschwanden der Schulname, sämtliche Schulbücher und Unterrichtshilfen, unabhängig vom politischen Gehalt. Im Zuge der Entlassungswelle wurde behauptet, einige Pädagogen seien fachlich unqualifiziert. Weil das zumindest bei Freundschaftspionierleitern nicht stimmte, intervenierte­ ich, auch mit Hilfe der Gewerkschaft. An der Schule blieb ich nicht.

 

Also gründeten Sie den Spielplatz-Initiative Marzahn e. V.?

Ich bin Mitgründerin des Vereins. Anfangs wurden wir ABMler gut bezahlt, doch bald begann das System der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu bröckeln. Von Senatsgeldern kauften wir ein Auto für Materialtransporte und für Ausflüge. Mit den Jugendlichen und Eltern bauten wir bei Wind und Wetter Holzhütten und sogar echte Flöße. Vor allem konnten wir auch abends und an Wochenenden Betreuung anbieten.

 

Klingt gut. Wo war der Haken?

Ein Formfehler verhinderte die weitere Finanzierung des Spielplatzes. Wir haben gekämpft und zu unserem Erstaunen machten sich auch die Jugendlichen stark. Doch zwei Marzahner Rathaus-Politiker, beide wie ich in der PDS, meinten, wir hätten die jungen Leute für den Erhalt unserer Arbeitsplätze missbraucht. Als Parteilose habe ich Freunde und Verbündete in fast allen politischen Lagern.

 

Wie ging es für Sie weiter?

Nach der Wende hatte ich 22 Arbeitgeber. Ähnlich erging es ja vielen Leuten. Man betraute mich mit verschiedenen Projekten, mal für drei Monate, mal für ein Jahr. Unter anderem leitete ich ein Pilotprojekt für Heranwachsende gemeinsam mit deren Eltern. Daraus wurde später „JULE“ für junge Eltern und Alleinerziehende. Ich wollte immer, dass junge Menschen Verantwortung für andere übernehmen.

 

Und Sie sind im Kiez aktiv.

Wichtig sind mir Nachbarschaft, Heimatgeschichte und der öffentliche Raum. Es geht um Wegenetze, einen Grünzug in der Bruno-Baum-Straße und auch um erklärende Schilder an Straßennamen, so wie das in Hellersdorf schon vorbildlich gemacht wurde.

 

Seit 2015 sind Sie an der Seite von Geflüchteten. Was motiviert Sie?

Wir Marzahn-Hellersdorfer leben erklärtermaßen an einem Ort der Vielfalt und Demokratie und wollen das mit Leben erfüllen. Durch aktives Mittun sind mir die Standorte Maxie-Wander-Straße, Blumberger Damm, Paul-Schwenk-Straße und Murtzaner Ring vertraut. Ich unterstütze auch das Projekt „Paradiesgärten“ in der Nähe von Marzahn-Hellersdorfer Gemeinschaftsunterkünften. Die Gärten sind als gemeinsam genutzte Oasen für Geflüchtete wie auch alteingesessene Nachbarn gedacht und sollen in schöner Umgebung Begegnungen ermöglichen.

 

Gespräch: Ute Bekeschus