40 Jahre Stadtbibliothek: Wie aus maroden Buden moderne Büchereien wurden
"Es herrschte eine totale Aufbruchstimmung"
Die Stadtbibliothek des Bezirks besteht seit 40 Jahren. Das Jubiläum haben Mitarbeiter zum Anlass genommen, um in einer Foto-Ausstellung die wilde Anfangsphase noch einmal aufleben zu lassen. Bis 31. Oktober können Besucher in der Mark-Twain-Bibliothek im Freizeitforum Marzahn (Marzahner Promenade 55) auf Zeitreise gehen.
Offiziell startete die Stadtbibliothek des damals frisch gegründeten Bezirks Marzahn am 1. Oktober 1979 mit zunächst vier Standorten – einem in Mahlsdorf, einem in Kaulsdorf und zweien in Biesdorf. „Wir haben die Gebäude als absolute Bruchbuden übernommen und bergeweise Bücher gekauft“, erinnert sich Maike Niederhausen. Sie war damals 21 Jahre alt und hatte gerade an der Leipziger Fachschule für Bibliothekare ihren Abschluss gemacht, als Gründungsdirektor Erich Bauermeister die junge Frau und noch viele andere Absolventen nach Ost-Berlin lockte. „Kommen Sie nach Marzahn. Wir fangen hier ganz neu an und Sie können Teil einer großartigen Entwicklung sein“, erzählte er den Leuten und versprach damit nicht zu viel.
Tegelitz als Zwischenlager
Mit großem Enthusiasmus führte der im Juni dieses Jahres verstorbene Bauermeister sein Team an. Zunächst galt es, die ersten vier Büchereien mit Leben zu erfüllen und vier neue Einrichtungen zu schaffen. Außerdem sollten 25 Arbeiterwohnheim-Bibliotheken entstehen. „Es herrschte die totale Aufbruchstimmung“, so Niederhausen. „Wir lebten gewissermaßen den Ehrenkodex der Musketiere: einer für alle, alle für einen, und hatten viel Spaß bei der Arbeit.“
Tausende Kartons mit Büchern wurden in den Anfangsjahren angeliefert, geschleppt und fit für die Bibliothek gemacht. In der einst legendären Mahlsdorfer Gaststätte Tegelitz türmten sich die Bücherberge. Das leerstehende Haus diente als Zwischenlager. Von dort aus wanderten die Medien zu den einzelnen Standorten. Als das Tegelitz eingestampft wurde, war es Erich Bauermeister, der den Kronleuchter aus dem großen Saal rettete. Heute hängt das Prunkstück im Schloss Biesdorf.
Ganz schön turbulente Zeiten
In den Achtzigerjahren wurden im Bezirk zahlreiche Bibliotheken eröffnet. Neben Büchern konnten bald auch Schallplatten (1980) und Tonbandkassetten (1981) ausgeliehen werden. Die erste Artothek ging 1982 ans Netz. Veranstaltungen wurden etabliert.
Doch es blieb turbulent. Was folgte, waren Schließungen, Umzüge, Wiedereröffnungen sowie die Trennung (1986) und Wiedervereinigung (2001) von Marzahn und Hellersdorf.
„Wir haben in den ersten Jahren 14 Bibliotheken aufgebaut und dann bis auf sechs Häuser alle wieder geschlossen“, blickt Maike Niederhausen zurück. Auch die Zahl der Mitarbeiter stieg und sank – zur Wende waren es über 100 Beschäftigte. Heute sind es knapp 40. Viele arbeiten an ihrer Belastungsgrenze.
Keineswegs Auslaufmodell
Trotz der angespannten Personalsituation präsentieren sich die heutigen Standorte nutzerfreundlich und modern. Sie sind durch ein ausgefeiltes Computernetz verbunden und beherbergen längst nicht mehr nur klassische Bücher, sondern auch Noten, CDs, DVDs, Hörbücher, Spiele für verschiedene Konsolen und eBooks. Ganz klar: Die Digitalisierung hat die Bibliotheken verändert. Ihr Wesenskern ist nicht mehr das gedruckte Buch, aber für einen Niedergang der Wissensorte sieht Maike Niederhausen keine Anzeichen: „Als Treffpunkt für die Menschen, als Ort des Austauschs haben wir sogar an Bedeutung gewonnen.“ Die Leute können hier Neues ausprobieren und kreativ sein. Es gibt Kurse und ganz unterschiedliche Angebote, außerdem WLAN und Laptops zur kostenfreien Nutzung. In der Ehm-Welk-Bibliothek wird derzeit für Jugendliche ein Gaming-Bereich (für Computer-Spiele) geschaffen. Und in der Mark-Twain-Bibliothek kann man in einem kleinen Probenraum sogar Musik machen. Verschiedene Instrumente stehen dafür zur Verfügung. Vormittags gibt es Bildungsangebote für Kitagruppen und Schulklassen. Nachmittags kommen Familien – und inzwischen auch Jugendliche, um gemeinsam zu lernen oder einfach nur abzuhängen.
Die großzügig konzipierte Mark-Twain-Bibliothek bietet zudem Raum für Lesungen und andere Formate. „Viele Büchereien in der Stadt machen gar keine Veranstaltungen. Bei uns war das schon immer wichtig“, sagt Maike Niederhausen und erwähnt dabei stolz, dass die Bezirkszentralbibliothek als einzige in ganz Berlin bislang immer am Internationalen Literaturfestival teilgenommen hat.
Botschafter-Funktion
In der Bücherei im Freizeitforum haben schon bekannte Persönlichkeiten das Publikum unterhalten. Heinz-Florian Oertel zum Beispiel, aber auch Manfred Bofinger, Andreas Dresen und Christine Westermann. Zur Lesung von Schauspieler Hilmar Thate kamen 280 Leute – absoluter Besucherrekord! Und Arnon Grünberg, ein niederländischer Schriftsteller mit jüdischen Wurzeln, ist selbst nach seinem dritten Besuch noch Feuer und Flamme für die charmante Bibliothek. „Er hat uns geschrieben, dass er noch dreimal kommen wird und dann zum Sterben in die Schweiz geht“, erzählt Maike Niederhausen mit ein bisschen Genugtuung. Denn Grünbergs Freunde rieten ihm einst von einem Besuch im Bezirk ab. „Bist du wahnsinnig? Da wohnen doch nur Nazis“, meinten sie zu ihm. Arnon Grünberg aber ließ sich nicht abhalten und machte sich ein eigenes Bild von Marzahn-Hellersdorf. Die Bibliotheken also als Botschafter für den Bezirk? Maike Niederhausen gefällt dieses Bild: „Ja, Leute herzulocken, die noch nie da waren und ihnen Marzahn-Hellersdorf jenseits der gängigen Klischees und Vorurteile zu zeigen, ist uns ein wichtiges Anliegen.“
Foto-Ausstellung:
40 Jahre Stadtbibliothek
Bis 31. Oktober 2019
Mark-Twain-Bibliothek
im Freizeitforum Marzahn
Marzahner Promenade 55
Öffnungszeiten:
Mo, Di, Do, Fr: 10–19.30 Uhr
Mi: 14–19.30 Uhr
Sa: 10–14 Uhr